Auf Leben und Tod
Von Claudia WangerinWer Bayern verstehen will, sollte lieber durch die Schule des
Lebens gegangen sein, als eine Ausbildung zum Psychiater
durchlaufen zu haben, denn letztere Zunft steht hier vor einem
Rätsel. Mit Baden-Württemberg konkurriert Bayern seit
Jahren im Kopf-an-Kopf-Rennen um die niedrigste Arbeitslosenquote
Deutschlands. Doch selbst im bevölkerungsreichsten Bundesland
Nordrhein-Westfalen, das für trostlose Industrieruinen und
eine fast doppelt so hohe Arbeitslosenquote bekannt ist, bringen
sich weniger Menschen um als in Bayern. 1749 Selbstmorde
zählte das Statistische Bundesamt 2009 im Freistaat; 9616
waren es bundesweit. »Die Suizidrate Bayerns liegt seit
vielen Jahren in allen Altersgruppen über dem
Bundesdurchschnitt«, zitierte die Süddeutsche Zeitung
Anfang Januar 2011 das bayerische Gesundheitsministerium.
»Einen vernünftigen Grund« konnte der
Würzburger Psychiater und Vorsitzende des nationalen Programms
zur Suizidprävention, Armin Schmidtke, nicht nennen. Die
Arbeitslosigkeit sei doch nicht hoch und die Bindung der Menschen
an den christlichen Glauben, der Selbsttötungen ablehne, sei
stark. Einer Leserin der jungen Welt fiel dazu ein,
daß die starke Glaubensbindung mit einem hohen
Konformitätsdruck verbunden ist; besonders in ländlichen
Gebieten für Andersdenkende, Schwule und Lesben ein hartes
Brot.
Ein weiterer Erklärungsansatz könnte sein, daß es
kein Spaß ist, in einem reichen Land arm zu sein:
Während die oberen 20 Prozent der bayerischen Bevölkerung
fast zwei Drittel des Vermögens unter sich aufteilen,
muß das untere Drittel mit gerade mal einem Prozent
klarkommen, enthüllte im Kleingedruckten der Sozialbericht
2009. Die Lebenshaltungskosten in der Landeshauptstadt richten sich
klar nach den oberen Einkommensgruppen: Laut Mietspiegelindex des
Marktforschungsunternehmens »F+B Forschung und Beratung
für Wohnen, Immobilien und Umwelt GmbH« kostete im Jahr
2010 ein Quadratmeter Wohnfläche in München
durchschnittlich 10,22 Euro. Fast doppelt soviel wie in Berlin, wo
die »Aufwertung« der letzten Jahre zu
Häuserkämpfen geführt hat. In München endete
die letzte Hausbesetzung im Sommer 2007 für die drei
jugendlichen Besetzer mit fünfjährigen
Gefängnisstrafen, nachdem die Polizei das Haus ohne Vorwarnung
gestürmt hatte und ein Beamter schwer verletzt worden war.
Seit dem Urteil ist wieder Ruhe im Karton.
An revolutionäre Zeiten erinnert der Legende nach die
Russenmaß, ein Mischgetränk aus Weißbier und
Zitronenlimonade. Zur Zeit der bayerischen Räterepublik soll
im Münchner Mathäser-Keller das Weißbier mit
Limonade gestreckt worden sein, um die im Volksmund als
»Russn« bezeichneten Revolutionäre nicht zu
ermüden. Aber das weiß kaum einer der Touristen und
Einheimischen, die heute im Bierzelt auf dem Münchner
Oktoberfest für das Getränk mehr bezahlen, als ein
Caipirinha in Berlin-Mitte kostet.
Um so schmerzfreier müssen Linke in Bayern sein, das seit der
Landtagswahl 2008 zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht mehr von
Schwarz, sondern Schwarz-Gelb regiert wird, weil die CSU damals
stolze 17 Prozent verlor. Auch FDP-Gliederungen hatten sich zuvor
an dem breiten Bündnis von Parteien, Gewerkschaften und
außerparlamentarischen Gruppen gegen das repressive
bayerische Versammlungsgesetz beteiligt, das die CSU-Mehrheit im
Landtag im Sommer 2008 verabschiedet hatte. Nach einer
erfolgreichen Verfassungsbeschwerde des Bündnisses
»Rettet die Grundrechte« und auf Druck des frisch
gebackenen Koalitionspartners mußte die CSU im Frühjahr
2009 das Gesetz wieder lockern. Kleine und große Erfolge und
Niederlagen sowie dunkle Flecken und Lichtblicke für Menschen,
die das Leben in Bayern trotzdem lebenswert finden oder
lebenswerter machen wollen, sind Thema dieser Beilage, die auf
Anregung der Leserinitiative München erstellt wurde.
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