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Aus: bayern, Beilage der jW vom 23.02.2011

Auf Leben und Tod

Bayern hat bundesweit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten, doch auf den zweiten Blick ist der soziale Sprengstoff nicht zu übersehen
Von Claudia Wangerin
Morgen fängt der Ernst des Lebens wieder an: Mitglieder des Baye
Morgen fängt der Ernst des Lebens wieder an: Mitglieder des Bayerischen Sportschützenbundes beim »großen Salut« am letzten Tag des Oktoberfests auf der Münchner There­sienwiese

Wer Bayern verstehen will, sollte lieber durch die Schule des Lebens gegangen sein, als eine Ausbildung zum Psychiater durchlaufen zu haben, denn letztere Zunft steht hier vor einem Rätsel. Mit Baden-Württemberg konkurriert Bayern seit Jahren im Kopf-an-Kopf-Rennen um die niedrigste Arbeitslosenquote Deutschlands. Doch selbst im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, das für trostlose Industrieruinen und eine fast doppelt so hohe Arbeitslosenquote bekannt ist, bringen sich weniger Menschen um als in Bayern. 1749 Selbstmorde zählte das Statistische Bundesamt 2009 im Freistaat; 9616 waren es bundesweit. »Die Suizidrate Bayerns liegt seit vielen Jahren in allen Altersgruppen über dem Bundesdurchschnitt«, zitierte die Süddeutsche Zeitung Anfang Januar 2011 das bayerische Gesundheitsministerium. »Einen vernünftigen Grund« konnte der Würzburger Psychiater und Vorsitzende des nationalen Programms zur Suizidprävention, Armin Schmidtke, nicht nennen. Die Arbeitslosigkeit sei doch nicht hoch und die Bindung der Menschen an den christlichen Glauben, der Selbsttötungen ablehne, sei stark. Einer Leserin der jungen Welt fiel dazu ein, daß die starke Glaubensbindung mit einem hohen Konformitätsdruck verbunden ist; besonders in ländlichen Gebieten für Andersdenkende, Schwule und Lesben ein hartes Brot.

Ein weiterer Erklärungsansatz könnte sein, daß es kein Spaß ist, in einem reichen Land arm zu sein: Während die oberen 20 Prozent der bayerischen Bevölkerung fast zwei Drittel des Vermögens unter sich aufteilen, muß das untere Drittel mit gerade mal einem Prozent klarkommen, enthüllte im Kleingedruckten der Sozialbericht 2009. Die Lebenshaltungskosten in der Landeshauptstadt richten sich klar nach den oberen Einkommensgruppen: Laut Mietspiegelindex des Marktforschungsunternehmens »F+B Forschung und Beratung für Wohnen, Immobilien und Umwelt GmbH« kostete im Jahr 2010 ein Quadratmeter Wohnfläche in München durchschnittlich 10,22 Euro. Fast doppelt soviel wie in Berlin, wo die »Aufwertung« der letzten Jahre zu Häuserkämpfen geführt hat. In München endete die letzte Hausbesetzung im Sommer 2007 für die drei jugendlichen Besetzer mit fünfjährigen Gefängnisstrafen, nachdem die Polizei das Haus ohne Vorwarnung gestürmt hatte und ein Beamter schwer verletzt worden war. Seit dem Urteil ist wieder Ruhe im Karton.

An revolutionäre Zeiten erinnert der Legende nach die Russenmaß, ein Mischgetränk aus Weißbier und Zitronenlimonade. Zur Zeit der bayerischen Räterepublik soll im Münchner Mathäser-Keller das Weißbier mit Limonade gestreckt worden sein, um die im Volksmund als »Russn« bezeichneten Revolutionäre nicht zu ermüden. Aber das weiß kaum einer der Touristen und Einheimischen, die heute im Bierzelt auf dem Münchner Oktoberfest für das Getränk mehr bezahlen, als ein Caipirinha in Berlin-Mitte kostet.

Um so schmerzfreier müssen Linke in Bayern sein, das seit der Landtagswahl 2008 zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht mehr von Schwarz, sondern Schwarz-Gelb regiert wird, weil die CSU damals stolze 17 Prozent verlor. Auch FDP-Gliederungen hatten sich zuvor an dem breiten Bündnis von Parteien, Gewerkschaften und außerparlamentarischen Gruppen gegen das repressive bayerische Versammlungsgesetz beteiligt, das die CSU-Mehrheit im Landtag im Sommer 2008 verabschiedet hatte. Nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde des Bündnisses »Rettet die Grundrechte« und auf Druck des frisch gebackenen Koalitionspartners mußte die CSU im Frühjahr 2009 das Gesetz wieder lockern. Kleine und große Erfolge und Niederlagen sowie dunkle Flecken und Lichtblicke für Menschen, die das Leben in Bayern trotzdem lebenswert finden oder lebenswerter machen wollen, sind Thema dieser Beilage, die auf Anregung der Leserinitiative München erstellt wurde.

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