Tarif statt frommer Wünsche
Von Michael ZanderMit großen Worten präsentierte die Bundesregierung im Juni dieses Jahres ihren »Nationalen Aktionsplan« zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen. Der Plan, so erklärte Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU), weise »den Weg in eine Gesellschaft, an der alle teilhaben, ob mit Behinderung oder ohne«. Angekündigt wurde unter anderem, in den nächsten fünf Jahren die »Beschäftigungschancen« Behinderter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. 10000 berufsvorbereitende Maßnahmen für Jugendliche, 1300 betriebliche Ausbildungsplätze und 4000 altersgerechte Arbeitsstellen für Beschäftigte über 50 Jahren sollen zusammen 100 Millionen Euro kosten. Bei rund 180000 als erwerbslos gemeldeten »Schwerbehinderten« ist dies ein Tropfen auf den heißen Stein, der nur notdürftig bestehenden Mißständen entgegenwirkt: Mittlere und große Unternehmen kaufen sich von ihrer gesetzlichen Pflicht frei, Behinderte zu beschäftigen, und staatliche Behörden errichten allerlei Hürden, die Betroffene davon abhalten, ihren Rechtsanspruch auf Förderung geltend zu machen.
Auch muß man daran erinnern, daß die UN-Konvention nicht nur die Arbeitswelt, sondern alle Lebensbereiche betrifft. Und da hapert es schon an elementaren Freiheiten. »Menschen mit Behinderungen«, heißt es etwa in Artikel 19, müßten »die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben«; sie dürften nicht dazu verpflichtet werden, »in besonderen Wohnformen zu leben«. Um dieses Recht zu verwirklichen, sieht die Konvention unter anderem die Gewährung »persönlicher Assistenz« vor, die es in der BRD bisher hauptsächlich in größeren Städten gibt. Persönliche Assistenz ist eine Errungenschaft der Behindertenbewegung: Assistenten arbeiten nach den Wünschen und Anweisungen der Behinderten und kehren damit traditionelle Betreuungsverhältnisse um. Sie ermöglichen ein Leben in der eigenen Wohnung, ohne daß sich die Behinderten den Vorgaben eines konventionellen Pflegedienstes oder gar eines Heimes unterordnen müssen.
Fragt man allerdings nach den Arbeitsbedingungen der Assistenzkräfte, gelangt man aus den luftigen Höhen regierungsamtlicher Ankündigungen auf den unsicheren Boden herrschender Sozialpolitik. So fordern Behinderte und Beschäftigte in Berlin seit Monaten eine Erhöhung der öffentlichen Vergütungen für persönliche Assistenz. Bei den zwei Assistenzanbietern in der Stadt, ambulante dienste und Lebenswege, arbeiten derzeit rund 800 Beschäftigte. Verhandlungen zwischen dem Senat und den Geschäftsführungen der Unternehmen waren auch deshalb nötig geworden, weil nach Jahren gleichbleibender Vergütungen die Löhne für Neubeschäftigte unter den Pflegemindestlohn zu sacken drohten. Eingesetzt für eine Bezahlung nach Tariflohn hatten sich insbesondere ver.di-Aktive unter den Beschäftigten und die behinderten Arbeitgeber, die Assistenzkräfte direkt bei sich anstellen. Eine »Anlehnung« an den Ländertarif war das erklärte Ziel der Senatsvertreter und der Geschäftsführungen der Betriebe. Ob dies erreicht wird, ist allerdings offen, nachdem Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos, für die SPD) mitteilte, den ausgehandelten Stundensatz senken zu wollen. Streit gibt es auch auf der Ebene der Bezirke. Ein Berliner Bezirksamt drohte kürzlich damit, für Assistenzkräfte nur noch den Pflegemindestlohn zu kalkulieren, trotz der Vereinbarung mit dem Senat. »Arbeitsmarktprogramme« und »Teilhabe« bleiben jedenfalls tendenziell fromme Wünsche, wenn diejenigen, die Behinderten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, nicht selbst hinreichend finanziell abgesichert sind.
Über das Thema Arbeit schreiben in dieser Beilage Stephan Lorent und Wolfgang Trunk. Katharina Göpner thematisiert die riskanten Lebensbedingungen, deretwegen behinderte Mädchen und Frauen Opfer sexueller Gewalt werden können. Michael Zander rezensiert das Buch von Bernd Ahrbeck, der sich gegen eine »totalitäre Inklusion« behinderter Schüler wendet. An die Gründung einer »Taubstummen-Sektion« der SPD vor 100 Jahren erinnert Ylva Söderfeldt. Thomas Wagner interviewt Susann Urban zu ihrem Buch über den blinden Weltreisenden James Holman. Und Rüdiger Haude erklärt, warum Piraten als Erfinder der modernen Sozialversicherung gelten können.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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