Papierner Protest tut Regierung nicht weh
Von Jörn BoeweWas für Politiker sind das, die Angst vor Menschen haben«, wunderte sich der Chef der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, Piotr Duda, laut Nachrichtenagentur PAP am 17. September in Wroclaw. 40000 Gewerkschafter hatten am Rande des EU-Finanzministertreffens für ein »Recht auf würdevolle Arbeit«, vor allem aber gegen die Abwälzung der Kosten der kapitalistischen Krise auf die arbeitende Bevölkerung demonstriert.
Wie die Neue Zürcher Zeitung berichtete, hatten die angekündigten Proteste, zu der Gewerkschaften aus der gesamten Europäischen Union aufgerufen hatten, bei den Finanzministern »für Verwirrung gesorgt«. Die polnische Regierung, die zur Zeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, habe die Minister aufgefordert, nach der Tagung »sofort« ihre Busse zu besteigen und abzureisen, was die meisten auch befolgten. Unter denen, die sich nicht bange machen ließen, war Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble. Er hielt »noch in aller Ruhe« eine Pressekonferenz ab, bevor er sich auf den Heimweg nach Hause machte, berichtete die NZZ.
Schäuble ist zweifellos einer der mächtigsten Politiker Europas, aber daß er keine Angst vor Gewerkschaften hat, hängt gewiß auch mit den besonderen deutschen Zuständen zusammen: Die mit den Hartz-Gesetzen ins gesellschaftliche Unterbewußtsein implantierte Angst vor dem Absturz diszipliniert gewerkschaftlich Organisierte wie Prekäre. Ein blasiertes Bürgertum mit wenig Kultur, aber soliden Wertanlagen, wähnt sich desto fester im Sattel, je weniger es die soziale Realität außerhalb seiner »Gated communities« noch wahrnimmt. Und der Linken fangen die Knie an zu schlottern, sobald ein ehemaliger SPD-Vorsitzender seine Reanimationsversuche für einen Moment unterbricht. Dazu die allgemeine gesellschaftliche Verblödung durch übermäßigen Smartphonegebrauch, Abnutzung der etablierten politischen Kräfte, bei gleichzeitiger Abwesenheit jeder kernigen fortschrittlichen Alternative. Eine Konstellation, in der schon der Aufstieg der harmlosen Piratenpartei als zeitgemäße Form von Dissidenz gilt.
Und die Gewerkschaften? Sie machen gute Vorschläge und hoffen, daß »die Politik« sie umsetzt. Die denkt zwar nicht daran, aber bedankt sich fürs Stillhalten: »Die Sozialpartnerschaft ist ein Wettbewerbsvorteil für unser Land«, erklärte Bundespräsident Christian Wulff Mitte September beim ver.di-Kongreß. »Diesem Miteinander verdanken wir, daß unser Land trotz der schweren Finanz- und Schuldenkrise bislang so gut wie kaum eine andere große Industrienation dasteht.« Früher bezeichnete »Sozialpartnerschaft« den Versuch, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit durch wechselseitige Zugeständnisse zu entschärfen. Heute machen nur noch die Beschäftigten Konzessionen, die »Sozialpartnerschaft« existiert weiter als bloße Ideologie, was die die Arbeiterführer der Republik nicht hindert, sich umso fester daran zu klammern.
Tatsächlich haben die Gewerkschaften gute Vorschläge auf den Tisch gelegt: Für eine Bürgerversicherung, angemessenere Besteuerung der Reichen, zur Bekämpfung der Altersarmut, Regulierung der Leiharbeit usw. usf. Man mag daran dies und jenes kritisieren. Das Problem sind aber nicht die Konzepte. Das Problem ist: Den Gewerkschaften fehlt der Biß, ihre Vorstellungen durchzukämpfen, der Mumm, Krawall zu schlagen. Das Motto des ver.di-Kongresses »Vereint für Gerechtigkeit« sei »ein einheitsstiftender Slogan, da kann man viel dafür sagen, auch viel dagegen sagen, weil er ganz allgemein bleibt«, meinte der Berliner Politologe und Aktivist Peter Grottian kürzlich im Deutschlandradio. »Aber die spannende Frage ist ja, wie die Gewerkschaft – egal ob nun bei Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, bei der Frage der Macht der Banken oder in anderen Feldern – wie sie dieses ›Vereint für Gerechtigkeit‹ denn durchsetzen will.« Alternative Vorschläge ohne Konfliktbereitschaft, so Grottian, sind nichts als »papierner Protest«.
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