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Aus: literatur, Beilage der jW vom 15.02.2012

Die Verwitterung der Welt

Intro
Von René Hamann
Bild 1

Wo Geschichte ist, ist auch Verwitterung. So spröde könnte man jetzt einen großangelegten Versuch über Zeitläufte, das Wesen der Welt oder die unter dem Druck des Spätkapitalismus stehende Stadt Berlin beginnen. Aber muß man nicht, ist ja eh alles offensichtlich. Was kommt, geht, was lebt, stirbt, oder, wenn wir über Bücher sprechen: Was heute gedruckt wird, endet schon morgen wieder in der Papierfabrik, als Dämmasse im Fertighausbau oder, was wir alle nicht hoffen wollen, als Brennmaterial.

Verwitterung ist, nebenbei bemerkt und en passant herbeizitiert, für die Bodenentstehung ein grundlegender Prozeß. Allgemein versteht man darunter die an oder nahe der Erdoberfläche durch Wirkung exogener Kräfte, d.h. Sonnenstrahlung, Atmosphärilien, Frost und Organismen verursachte Zersetzung, Zerstörung und Umwandlung von Gesteinen und Mineralen. Exogene Kräfte wie Atmosphärilien!

Also haben die Spuren, die Risse, die durch die Welt gehen, der rasche Verfall von Leben und Gebäuden zum Beispiel auch etwas Morbid-Schönes, und um das zu sehen, muß man nicht einmal auf einen Friedhof oder nach Wien. Man kann eigentlich gleich da bleiben, wo man ist: in diesem Ohrensessel, der ja auch schon einmal bessere Zeiten gesehen hat, auf dem Sofa mit den geplatzten Nähten, auf dem wackligen Küchenstuhl, auf dem bekritzelten, verwanzten Sitz im Bus – und sich dieser schönen Lektüre hier widmen, unserer antizyklischen Literaturbeilage nämlich.

Denn die befaßt sich nicht nur mit Vergessenem, Übersehenem, Verwittertem, sondern in jedem Fall auch mit der Wiederentdeckung lohnender Bücher, neben den wie sonst üblichen Neuerscheinungen über die Welt der Hipster, das grüne Amerika oder das Leben von Feministinnen. Nein, es lassen sich auch Bilder sehen, Fotos von abgeblättertem Holz, bemalten Wänden, von Schutt und Asche, von Rost und bröckelndem Putz, und wir verdanken diese Bilder der in Berlin arbeitenden Französin Jeanne Fredac (mehr zu ihr in der Marginalie auf Seite 2).

So stehen in dieser einmaligen Winterausgabe Daniel Dubbe, JC Oates, André Breton, Arno Schmidt völlig gleichberechtigt neben Nicholson Baker oder Navid Kermani. Viel Klassisches, einiges Neues: Also die neuesten Neuerscheinungen, die bislang übersehenen Geheimtips, die Stadtgesprächexemplare und die randständigen Blüten, die die Welt der Buchstaben so braucht. Also Bücher für, mit und gegen den Winter. Die nächste Buchmesse kommt bestimmt.

Jeanne Fredac ist eine französische Fotografin, die seit mehr als vier Jahren in Berlin lebt und arbeitet. Sie stellt ihre Fotografien an jedem Wochenende auf der Straße aus; es sind Fotos, die analog geschoßen wurden, Kleinbild, Mittelformat, in limitierten Auflagen. Jeanne Fredac scheut Galerien und Verlage, sie möchte eigenständig und eigenwillig bleiben. Die hier gezeigten Fotos stammen aus ihrem Bildband »Verlassene Orte. Deutschland 2006–2011«, zu bestellen über ihre Webseite www.jeannefredac.com.

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