In die Ferne schweifen
Von Peter SteinigerUnsere Erde ist wahrlich ein Bilderbuchplanet. Kaum ein Fleckchen, welches die Marktschreier der Tourismusbranche nicht als absolut sehenswert, aufregend, ungewöhnlich, phantastisch, und – zuallererst – als traumhaft anpreisen. Um an die schöne Ware zu gelangen, heißt es sich bewegen, denn das Glück wartet stets anderswo. Wir haben es uns verdient, schmeicheln sie. Schon wieder ein paar Monate den Arsch im Büro breit gesessen, die Routine des Alltags ertragen – also ab an den weißen, palmengesäumten Strand, Bedienung von vorne und hinten inklusive.
Reisen in die Ferne und Tourismus als Lebensstil, das ist auch in den entwickelten Ländern erst seit wenigen Jahrzehnten ein relatives Allgemeingut geworden. Seefahrer, Kaufleute und Entdeckungsreisende hatten die eigene Anschauung anderer Länder und Erdteile lange exklusiv. Die Ärmeren betraten sie höchstens als Auswanderer oder mit dem Soldatenstiefel. In seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, dem Bestseller »Das Zeitalter der Extreme«, macht der britische marxistische Historiker Eric Hobsbawm die dem Tourismus als Industrie zugrunde liegende Zunahme an breitem Wohlstand auf der Basis des fordistischen Produktionsmodells anschaulich. »Güter und Dienstleistungen, die zuvor nur Minderheiten zugänglich gewesen waren, wurden nun für den Massenmarkt produziert (etwa im Massentourismus zu sonnigen Stränden).« Von »Fly and Lie« nur träumen kann weiterhin der Reisbauer in Thailand, der Malocher in der chinesischen Chemiebude, die kubanische Krankenschwester oder die Näherin in Pakistan. Die soziale Spaltung und die ökonomische Unterordnung der Dritten Welt zeigt sich auch auf diesem Gebiet. Neunzig Prozent der Weltbevölkerung haben noch nie ein Flugzeug von innen gesehen.
Reisefreiheit ist immer noch das Vorrecht weniger, für viele bleiben die Grenzen dicht: Die einen kommen nicht rein, die anderen nicht raus. An Europas Küsten wehrt Frontex ungebetene Gäste rigide ab. Die Möglichkeit zu Reisen bedeutet auch Teilhabe an Bildung, Erholung, Gesundheit und, im besten Fall, gelebter Völkerverständigung. In den reichen Ländern selbst wachsen mit der Krise des Casino-Kapitalismus Ungleichheit und Bevormundung. Und doch boomt das Reisegeschäft weiter, mit Folgen für Mensch und Umwelt. Die postindustriellen Gesellschaften allgemein und wirtschaftlich ohnehin schwache Regionen, suchen vermehrt darin ihr Heil. »Mit dem Erdöl und dem Automobil ist der Tourismus zum größten Wirtschaftszweig aufgestiegen. Er beschäftigt mehr als 200 Millionen Menschen, das sind acht Prozent der Arbeitenden weltweit«, rechnet der französische Soziologe Cedric Biagini vor. Der Reiseverkehr trägt mit 7,5 Prozent zu den globalen Treibhausgasemissionen bei – das meiste davon geht auf die Kappe der Luftfahrt. Wachstum frißt Effizienzverbesserungen; die Reiseströme nehmen Jahr für Jahr um vier bis fünf Prozent zu. »Verantwortlicher« und »nachhaltiger« Tourismus ist weiter nur eine Nische.
Die Tourismusbeilage von junge Welt kann und möchte Ihnen nicht das Fernweh austreiben. Neben innen- und außenpolitischen Stammautoren der Zeitung sind auch Reisejournalisten mit Beiträgen vertreten, darunter gleich drei ausgewiesene Experten aus Österreich. Diese länderüberschreitende Kooperation geht auf während der letztjährigen Tourismusmesse FITCUBA (www.fitcuba.com) in Havanna gewonnene Kontakte zurück. »Anders Reisen« meint die Erfüllung von Träumen mit offenem Blick für soziale und politische Realitäten. Es lohnt sich: Sie haben eine Welt zu gewinnen.
So fern, so nah – Impressionen einer Stadtlandschaft
Für die Illustration dieser Beilage fotografierte Anke Linz im Februar 2012 in Berlin. Sie gehört dem seit 1987 bestehenden renommierten Fotografenteam Billy & Hells an, dessen Arbeiten in zahlreichen Zeitschriften und Magazinen publiziert werden und das sich besonders mit ironisch-ästhetischen Porträts in der Kunstwelt einen Namen gemacht hat. Portfolio und Kontakt: www.billyundhells.de
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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