»Leute, fragt!«
Von Interview: Christof MeuelerF: Vor über 30 Jahren haben Sie eine Superheldin für Kinder geschaffen: Birne. Die konnte nicht nur leuchten, sondern auch fliegen und sprechen.
Und aus dem Armenischen übersetzen.
F: Im Vorwort des zweiten Birne-Bandes »Birne kann noch mehr« schreiben Sie, Birne hätte Ihnen gesagt: »Ich bin widerstandsfähig, man kann mich an- und ausknipsen. Ein Mensch würde das nie aushalten, deshalb bin ich auch erfunden worden.« War es nicht Ihr Sohn Daniel, der Birne erfunden hat?
Ich habe ihm immer vor dem Einschlafen erfundene Geschichten erzählt. Es ist meine Profession. Eines Abends sagte ich: »Ich mag nimmer, mir fällt nichts mehr ein. Mach du weiter«. Er hatte neben dem Bett ein altmodisches Nachttischlämpchen stehen. Es mußte so lange brennen, bis er eingeschlafen war. Er sagte: »Erzähl doch was... über Birne«. »Und was ist mit ihr?«, fragte ich. »Sie muß alles können!« Das Zauberreich öffnete sich, die kindliche Omnipotenz begann.
F: Birne ist in den Weltraum geflogen, sie hat Autorennen gefahren, sie hat mit Fischern auf dem Meeresgrund Algengärten angelegt, an den olympischen Spielen teilgenommen und mit anderen Glühbirnen gestreikt.
Wir haben mit Birne auch Jesus vom Kreuz geholt, weil das viele Hängen bestimmt sehr weh tut. Birne konnte alles, was normale Birnen birnentechnisch vermögen und noch viel mehr. Denn die Birne ist doppeldeutig. Es ist der Kopf, das Licht da drin und es ist ein technischer Gegenstand, das Licht draußen. Und vor allem: es ist keinerlei Projektion für Mama und Papa. Das war das Gute daran.
F: Sie war sehr links.
In den frühen 1970er Jahren waren sogar die Sechsjährigen schon politisiert. Wir haben Lesungen und Aufführungen in Turnhallen veranstaltet. Da wurden die Lehrer und Lehrerinnen von den Kindern meistens rausgeschickt, die hatten dort nichts zu suchen. Die Kinder hatten allgemein die viel besseren Ideen. Lange wurde über einen Birne-Film verhandelt, und ich sagte immer: Das geht nicht, das gebe ich nicht her, denn sobald die Kinder das Ding sehen und es nicht mehr nur in ihrer Phantasie existiert, ist es tot.
Birne hatte in der Tat eine revolutionäre Tat vollbracht: Sie war die erste Kinderliteraturheldin, die die Kinder in der Stadt ließ. Sie war strikt gegen die ganze Försterei und Blümchenkunst und heissa-ist-es-auf-der-Welt-so-schön. Das war in diesen Büchern alles weg. Statt dessen waren Düsenmotoren wichtig.
F: Und die Kinderzeichnungen, mit denen Ihr Sohn Daniel die Geschichten illustrierte.
Die Originalität der Kinderzeichnungen hat Birne Authentizität gespendet. Es wurde nicht von Erwachsenen etwas Illusionäres getuscht und den Kindern kindischer Plüsch vorgesetzt, sondern das Gefühl erzeugt: Das kann ich auch. Und das können sie auch alle ab vier, fünf Jahren, etwas Neues, Grobes. Mein Sohn Daniel hat das murrend, aber oft auch sehr gern gezeichnet.
F: Wurde er auch am Umsatz beteiligt?
Natürlich: zu zehn Prozent. Daß die Zeichnungen die Erwachsenen befremdeten, das hörte ich anfangs oft. Beim Luchterhandverlag gefielen sie nur dem Vertriebschef. Er sagte, das Geniale an Birne sei, daß sie eine Freiheitsidee beinhalte: »Leute, fragt! Laßt euch nicht für dumm verkaufen! Die Kinder müssen selbst etwas tun. Sie dürsten. Deshalb waren Daniels Zeichnungen richtig. Das Selberzeichnenkönnen gehört zum Selbermachenkönnen dazu. Der Vertriebschef war ein verspäteter El-Greco-Mann. Er trug immer schwarze Rollkragenpullover und fuhr einen schwarzen Porsche. Und für die Birne-Bücher setzte er ein neues, größeres Format durch, sozusagen ein Porscheformat.
F: Birne ist Teil von Aufbruch und Revolte von 1967/68.
Mein Sohn ist 1962 geboren. Zwischen Erzählen und Aufschreiben liegen Jahre. Die ersten beiden Birne-Bücher kamen 1971 heraus. Da lebte ich mit Daniel nicht mehr zusammen. Ich wurde todkrank, weil ich mich von meinem Sohn trennen mußte. Ich lebte dann in München, und mein Sohn blieb bei seiner Mutter in Westberlin. Ich schickte ihm zum Wochenende per Post eine Geschichte. Dann wurde sie zurückgeschickt mit einer Zeichnung von ihm. Oder sie blieb bei ihm, weil er meinte: mag nicht, fällt mir nichts zu ein. Mußte er auch nicht. Keinerlei Zwang. Es waren offene Systeme. Er zeichnet schwarz oder in Farbe, was gerade auf dem Tisch lag.
Bevor sich unsere Wege trennten, wollte ich ihm noch beibringen, wie man ohne Geld in einem fremden Land überleben kann. Wir sind zusammen nach Neapel mit dem Zug gefahren, ohne zu bezahlen. Und von dort schwarz mit dem Schnellboot nach Capri. Alles muß immer vollbesetzt sein, dann fällt man nicht auf und muß nur ein bißchen auf die Kontrolleure achten. Wir haben gestohlen im Supermarkt und am Strand auf Kartons unter Booten geschlafen. Eines Nachts bemerkte ich, wie mein Sohn sich hin und herwälzte – in der Hand sein langes Fahrtenmesser. Er wollte uns beschützen. Ich habe vor Rührung fast geweint. Die Fahrt zurück ging auch gut. Zum Abschluß habe ich ihm gesagt: »Schau, so ungefähr kannst du überleben.« Davon wollte er aber überhaupt nichts wissen. Er sagte: »Papa, ich will nie wieder mit dir verreisen!«
F: Wie alt war er da?
Sechs. Was bis sechs nicht geschieht, geschieht nimmer mehr. Wenn die Kinder bis zu diesem Alter keine Heimat in sich haben, dann brauchen sie Jahrzehnte, bis sie sich selbst eine aufzubauen vermögen. Wo die Heimat sich befindet, verlangt zwar nach Rückkehr, sie kann auch imaginär sein, aber vorhanden muß sie sein. Sonst ereignet sich ein permanentes Scheitern oder eine Zwangshaltung.
F: Hat Ihr Sohn auch Kinder?
Er will keine, doch dreimal Urlaub im Jahr, Ski fahren und nach Hawaii oder Florida fliegen. Er wird 50, lebt in München und ist ein hochbegehrter Junggeselle mit goldenen Kreditkarten.
F: Wie fand er die etwas avancierteren Ausflüge von Birne in die Geschichte im dritten Band »Birne brennt durch«?
Nicht mehr gut, sie waren ihm zu erwachsen.
F: Hat die Elektroindustrie auf Birne reagiert? Gab es Nachricht von Osram?
Ich bin nie dorthin gegangen, um zu recherchieren. Die Recherche ist der Tod der Phantasie. Ich habe mir alles ausgedacht und hinterher festgestellt: Ja, so ist es. Damals kam die O-Ton-Literatur auf. Sprich mit den Leuten, schreib es genauso auf, und dann wissen wir es. Erika Runge war die Königin des O-Tons.
F: Mit ihren »Bottroper Protokollen«.
Ein gutes Buch, es hat viel durchgesetzt. Aber ich habe ihr gesagt: Erika, geh nirgends hin, erfinde es. Frau O-Ton-Runge sagte: »Ich muß jetzt zum Friseur, ich will wissen, wie Dauerwellen gemacht werden«. »Nein«, habe ich ihr gesagt, »das weißt du doch schon, stell es dir einfach vor.« Sie kam mit einer Dauerwelle zurück und meinte: »Alles sehr schwierig. Wie soll ich das beschreiben?« Ich half ihr nicht. Heute gibt es eine Theatergruppe der »Rimini-Protokolle«, die ebenfalls dokumentarisch arbeitet. Mein Begehren sind solche Seh-nur-Dialoge nicht.
F: Sie waren Mitglied der DKP. Ist Birne auch in der DDR veröffentlicht worden?
In strenger Auswahl. Mein ganzes Werk ist in der DDR erschienen, aber eben nicht alles.
F: Was wurde weggelassen?
Was wir »Freiheit« und »freie Wahl« nennen, nannten sie dort »Anarchismus«. Birne wurde übersetzt in Spanisch, Baskisch, Türkisch, Italienisch, Polnisch, in Norwegisch. Das war alles fortschrittlich. Der Fortschritt in der DDR verbarg sich woanders, zum Beispiel in 61 Wurstsorten. Ich habe dort gelesen, aber keine Birne-Geschichten. Sie dachten, er spuckt uns in die Erziehungssuppe. Die Sowjetunion war viel großzügiger.
F: 1996 ist der vierte Birne-Band erschienen. »Birne kehrt zurück« – nach über 20 Jahren Abwesenheit.
Sie wurde gleich gestoppt. Entweder haben es die Birne-Väter und die Birne-Mütter nicht mitbekommen, oder die Birne-Kinder waren inzwischen schon erwachsen und haben gedacht: »Oh, Birne, nicht schon wieder!« Niemand wollte mehr Birne. Allerdings war die zurückgekehrte Birne sehr ökologisch verseucht und sehr ökonomisch interessiert. Da hatte ich etwas falsch gemacht. Man muß mit der Ökonomie sehr sorgsam umgehen. Ich wollte wieder etwas anrichten, ein leicht anarchistisches Gestöber in die für mich nicht mehr greifbare westdeutsche Literatur einführen – was vollständig mißlang.
F: Was haben Sie als Kind gelesen?
Keine Kinderbücher, sondern Heldensagen, mit sechs, sieben Jahren, zum Beispiel »Ein Kampf um Rom« von Felix Dahn, Römer gegen Goten, als die intrigante Königin Amalaswintha im kochenden Bad verdarb. Es dampfte schwül aus den Sätzen. Mein ganzes Literaturverständnis, meine religiöse und soziologische Ausbildung, die gesamte Ökologie in mir aber kommt von einem anderen Buch her: »Rulaman« von David Friedrich Weinland, Erstauflage 1876. Er war Zoologe und Forscher, der Geschichten geschrieben hat, die in den steinzeitlichen Höhlen der Schwäbischen Alb spielten. Rulaman ist ein jugendlicher Held, ein großartiger Kämpfer und Jäger. Es gibt dann auch noch »Kuning Hartfest«, Geschichten über die Kelten als die Fortsetzung von »Rulaman«. Sie waren schon nicht mehr so gut.
F: War »Rulaman« illustriert?
Präraffaelitisch, leicht süßlich, also sehr schön, um Hemmnisse zu überwinden. Das genialste an »Rulaman« ist sein Anmerkungsapparat. Weinland, ein umfassend gebildeter Mann, hat beispielsweise fremde Namen eingeführt und auch erklärt: Namen, die seltsam klangen, aber immer paßten – aus dem Isländischen, aus dem Lateinischen, aus dem Frühsumerischen. Und wenn ein bestimmter Knochen gespalten wurde, um daraus ein Werkzeug zu machen, wurde im Apparat genau erklärt, warum ausgerechnet dieser Knochen sich gut dafür eignete und woher er kam. Ich habe mich beim zweiten Mal Lesen nur auf den Apparat konzentriert. Es war das Spannendste, was ich je entdeckt habe.
F: Lesen Sie noch Neuerscheinungen?
Die Romane heutzutage sind oft uninteressant. Ein bißchen Trubel, ein wenig Beziehungsgeflecht oder die Mystifizierung der eigenen Person als Literatur-Literatur, zur Zeit sehr prestigeträchtig. Bei »Rulaman« aber ging es ums Überleben. Es war mein Ur-Buch.
F: Und wie kann man als Kind überleben?
Wenn wir Durst hatten, sind wir in den nächsten Bach gesprungen. Das Wasser, auch aus den Seen, konnte überall noch getrunken werden, und auf der Schwäbischen Alb gab es Knöchelchen, die Faustkeilen oder kleinen Harfen ähnelten. Wenn meine Mutter Brunnenkresse brauchte, sind wir los mit einem Netz und haben den Salat aus einer verlassenen Kneipanlage geholt. Brauchte sie Forellen, habe ich mich ans Ufer gelegt und welche mit der Hand gefangen oder mit dem Blumendraht gefischt. Er wird, eine fiese Angelegenheit, weiträumig über die Kiemen bugsiert, dann mit einem Ruck zugezogen und der Fisch aus dem Wasser geschleudert. Er blutete und japste noch im Gras, schaute uns mit seinen Augen, die nichts wissen, als seien sie Edelsteine, an.
F: Hat Ihnen Ihr Vater aus »Rulaman« vorgelesen?
Er kannte ihn nicht, hat meinem Bruder und mir auch nichts vorgelesen. Er war ein Tierarzt, der nach Hause kam und erschöpft eine Kanne Milch trank. Manchmal veranstaltete er Kissenschlachten oder fuhr mit uns auf seinem Motorrad vier Runden um die Stadt herum. Einer vorne auf dem Tank, einer hinten auf dem Sitz.
F: Sie sind 1932 geboren. Was haben Sie für Erinnerungen an die Nazis?
Daß mein Vater Obernazi war, aber im Krieg verschwand. Er kommandierte den letzten Pferdepark in Oels, Niederschlesien. Er kam nie wieder. Es heißt, er sei von Partisanen an einer Kreissäge scheibchenweise zersägt worden.
Meine Familie war privilegiert, denn mein Großvater besaß eine kleine Peitschenfabrik. Daraus entwickelte sich später, als der Tourismus begann, eine Fabrik für Skistöcke, und dann für Camping. Ein Onkel von uns hat für seine Frau, die Malerin war, den ersten Wohnwagen erfunden, damit sie ihr Atelier auf Reisen mitnehmen konnte. Diese Firma gibt es heute noch: Dethleffs. Ich sollte sie erben, wollte nichts damit zu tun haben, sie entsprach nicht den Nietzsche-Sätzen, die ich las. Die Welt war haptischer anzufassen.
F: Wie war der Krieg?
Es war aufregend. Mustangs kamen über die Felder geschossen. Tiefflieger der Allierten. Wer sich im Graben nicht duckte, wurde mehrfach geteilt. Manchmal sind auch welche abgestürzt. Wir sind hingegangen und haben die schweren MPs ausgebaut und nach Hause geschleppt, mein Bruder und ich. Wir waren gut ausgerüstet. Wenn alle bewaffnet waren, statteten wir uns ebenso mit Leuchtspurmunition, Dum-Dum, Phosphor und Stahlmantel aus. Einem toten Piloten zogen wir die Pelzjacke aus und machten ihm die goldene Uhr ab. Es war, wie Benjamin sagt, Genuß der Unterlegenen, die zerstörten, um ihrer Kindheit einen Halt zu geben.
F: Sie haben keine schlechten Erinnerungen?
Wohlbehütet, wie ich den Krieg im letzten Schürzenzipfel Süddeutschlands erlebte, empfand ich die nach Kriegsende zurückkehrenden Väter am schlimmsten. Die sickerten wieder ein, hatten nur ein Auge oder nur noch einen Fuß. Zuerst waren sie äußerst schweigsam und wurden viermal am Tag warm gefüttert, weil sie so schwach waren. Und dann fingen sie langsam wieder an, über ihre Frauen und über die Kinder zu herrschen. In einem Ton, der knarrend war. Weg, weg, dachte ich schon, nach Paris, in die damalige Kulturzentrale der Welt.
Wir Kinder spielten mit den Bubis, so hatten wir die französischen Soldaten aus Algerien genannt, weil sie so lieb und so jung waren. Sie lebten mit uns im Keller, und zwei Stock höher, in unserer eigentlichen Wohnung, war die Kommandantur untergebracht. Darin waren les Blancs, die Weißen, die Offiziere. Die Bubis wurden von ihnen geschlagen. Mit uns haben sie gekifft, übles Zeug, Wurzelkiff im Pfefferminztee. Ich war zwölf und verfiel in Träume. Die Bubis und wir Kinder waren eine Bande für sich.
Im nächsten Winter, ausgestattet von den Bubis, fuhr ich eine Viererkombination Ski bei Wettkämpfen, die es nicht mehr gibt: Langlauf, Torlauf, Abfahrtslauf und Springen. Entweder siegte ich spektakulär oder stürtzte in ebenso spektakulärer Weise.
Meine Kindheit ist ein unausrottbarer Traum für Abenteuer, fürchterliche Anstrengungen und deren Erlösungen.
Die beiden ersten Birnen-Geschichten erschienen 1970 bei Hanser, 1971 folgten bei Luchterhand die Birne-Bände »Birne kann alles« und »Birne kann noch mehr«, 1975 »Birne brennt durch« und 1996 »Birne kehrt zurück« (alle bei Luchterhand). Später gab es Taschenbuchausgaben bei Rowohlt
Alle Fotos dieser Beilage stammen aus dem Buch »Durch dick und dünn. Großeltern von heute und ihre Enkel« von Paula Lanfranconi (Texte) und Ursula Markus (Fotos), erschienen im Schweizer Helden Verlag.
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