Letzte Bastion
Von Jana FrielinghausSpezialisierung und »Strukturwandel« im Agrarsektor schreiten in den Industriestaaten in teilweise rasantem Tempo voran: Immer größer werdende reine Ackerbaubetriebe hier, industrielle Schweine- und Geflügelmastanlagen mit zigtausend Tierplätzen dort. In letzteren, sagt die Milchkuhhalterin Johanna Böse-Hartje, seien die Bauern nur noch »Lohnarbeiter« großer Schlachthofkonzerne wie Wiesenhof. Sie haben noch weniger Rechte als andere abhängig Beschäftigte – und das volle Risiko eines Unternehmers.
Böse-Hartje bewirtschaftet mit ihrer Familie einen Bioland-Milchviehbetrieb bei Bremen – und streitet in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und im Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) für die Interessen ihres Berufsstandes. Ende Juni sprach sie in Berlin gemeinsam mit ihrer Kollegin Hellen Yego aus Kenia über die Folgen von globalisiertem Welthandel für Milchbauern sowohl in Europa als auch in den Entwicklungsländern – im Rahmen einer Veranstaltung in Vorbereitung des europäischen Marsches für eine grundlegende Reform der EU-Agrarpolitik (siehe S. 2/3). Für Böse-Hartje sind Milchviehbetriebe »die letzte Bastion der bäuerlichen Landwirtschaft«. Weil es hier noch weitgehend intakte innerbetriebliche Stoffkreisläufe gibt: Die Tiere werden zu einem hohen Prozentsatz mit selbst angebautem Futter versorgt – und liefern wiederum einen erheblichen Anteil des für den Ackerbau benötigten Düngers. Außerdem ist hier der Produktionsprozeß noch weitgehend in der Hand des Hofinhabers. Er entscheidet, wie viele Tiere er hält, welche Futtersorten er anbaut, ob und wie lange er die Kühe im Sommer auf die Weide schickt. Doch auch diese Freiheit stößt an viele Grenzen. Die wichtigste ist der Preis, den der Milchbauer für sein Hauptprodukt bekommt. Als der 2009 mit teilweise unter 20 Cent je Liter in Europa einen neuen Tiefststand erreichte, gab es Protestaktionen und Hungerstreiks der Betroffenen in Brüssel, vor dem Bundeskanzleramt in Berlin und an vielen anderen Orten. Milch wurde weggekippt, Molkereien wurden blockiert.
Es folgte eine längere Erholungsphase, in der in einigen Regionen Deutschlands zeitweise sogar die vom BDM eingeforderten und als kostendeckend bezeichneten 40 Cent pro Liter erreicht wurden. Seit einigen Monaten geht es nun wieder abwärts: In Ostdeutschland etwa werden derzeit wieder nur noch um die 28 Cent ausgezahlt. Am 10. Juli haben deshalb erneut Bauern aus mehreren europäischen Ländern in Brüssel gegen die EU-Agrarpolitik protestiert. Denn statt den Milchpreis mittels Erhaltung des Systems der Quoten zu stabilisieren, hat die EU-Kommission unter dem Druck der Welthandelsorganisation WTO beschlossen, die Mengenbegrenzung schrittweise abzuschaffen. Ab 2015 wird es keinerlei Limit mehr geben, der Weltmarkt soll von da an die produzierte Milchmenge regulieren.
Die Folge dürfte ein erneut beschleunigtes Höfesterben sein. Die Zahl der Milchkuhhalter in Deutschland hat sich einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge schon zwischen 1993 und 2003 fast halbiert – von rund 230000 auf 117000. Ende 2011 gab es nach Angaben der Agrarmarkt-Informationsgesellschaft sogar nur noch 87160 solcher Unternehmen. Zugleich ist die Zahl der in der BRD gehaltenen Kühe von 4,9 Millionen 1998 auf inzwischen vier Millionen zurückgegangen. Die an die Molkereien gelieferte Milchmenge hat sich dagegen sogar leicht erhöht. Der Grund: Die Leistung pro Kuh ist immer weiter gestiegen – auf mittlerweile durchschnittlich 7000 Liter Milch pro Jahr. Zum Vergleich: In der DDR, die sich keine teuren Sojaimporte leisten konnte und wo sämtliches Futter auf eigenen Flächen produziert werden mußte, waren 4000 Liter ein großes Planziel. Was Renate Künast predigte, als sie 2001 Bundeslandwirtschaftsministerin wurde (»In unsere Kühe kommt nur Wasser, Getreide und Gras«), war in dem zweiten deutschen Staat Realität. Tatsächlich ist das Prinzip der Vor-Ort-Erzeugung von Lebensmitteln ein kategorischer Imperativ – wenn denn Hunger und Ressourcenvernichtung weltweit beendet werden sollen.
Derzeit aber ist der einzelne Landwirt in Europa angesichts der geringen Erzeugerpreise – er bekommt für seine Milch heute nicht mehr Geld als vor 20 Jahren, und das bei gleichzeitig enorm gestiegenen Produktions- und Lebenshaltungskosten – gezwungen, seine Betriebsabläufe immer effizienter und kostengünstiger zu gestalten. Auch hier gilt die Maxime »Wachse oder weiche«. Dies wiederum führt vielfach erneut zu sinkenden Preisen – ein Teufelskreis.
Abhilfe könnte nur eine strikte Mengenregulierung innerhalb der EU und parallel dazu ein System von Mindestpreisen schaffen, die auch kleineren Betrieben das Überleben ermöglichen. Und lediglich bei einer Abkehr von der Ausrichtung auf Überproduktion und Export könnten sich auch in den Entwicklungsländern gesunde regionale Märkte entwickeln – und Bäuerinnen wie Hellen Yego von ihrer Hände Arbeit leben. Yegos Familienbetrieb ist für kenianische Verhältnisse schon groß: Sie hat 57 Kühe, außerdem Ziegen, Schafe und Geflügel – und baut auf 70 Hektar Mais, Weizen und Gemüse an. Für sie sind massenhafte Milchpulverimporte aus der EU ein großes Problem. Mit dem Bauernverband NGOMA kämpft sie seit Jahren für ein Ende der subventionierten Billigkonkurrenz durch europäische Produkte, die der heimischen Landwirtschaft den Garaus zu machen drohen – »für fairen Handel statt Freihandel«.
Klaus Maack/Jesco Kreft/Eckhard Voss: Zukunft der Milchwirtschaft. Auswirkungen von EU-Agrarreform, Strukturwandel und Internationalisierung. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 155, Düsseldorf 2005, 165 Seiten; kann online heruntergeladen werden: www.boeckler.de/pdf/p_edition_hbs_155.pdf
Milchmengenerzeugung und -lieferung in Deutschland aktuell: www.meine-milch.de/artikel/die-milcherzeugung-und-anlieferung
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!