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Aus: erster mai, Beilage der jW vom 29.04.2013

Die Krise als Erfolgsmodell

Deutschland setzt auf Export, soziale Konflikte werden outgesourct, festgezurrt erscheinen die Verhältnisse
Von Jörn Boewe
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Überall in der Euro-Zone quietscht und kracht es, das europäische Sozialmodell gerät aus den Fugen, nur die deutsche Wirtschaft kann vor Kraft nicht laufen. Deutschland setzt auf Export und schafft es, einen Großteil des in Berlin angezettelten sozialen Desasters in andere Länder auszulagern. Krise war gestern, in der Bundesrepublik kehrt Systemvertrauen zurück. Meinungsforscher liefern die Beweise.

Immer mehr verschwimmen die Grenzen von Krise und Prosperität: Die Finanzkrise von 2007/2008 wurde erfolgreich in eine Staatsschuldenkrise transformiert. Die »Märkte« sind aus dem Schneider und die öffentlichen Kassen leer. Die kommunalen Sachinvestitionen gingen 2012 um elf Prozent zurück, sie lagen bei nur noch 21,0 Milliarden Euro. Das sind ungefähr zwei Drittel der Summe, die der deutsche Staat fürs Militär ausgibt. »Bei Schulen, Straßen und öffentlichen Gebäuden wird seit Jahren eher geflickt als grundlegend renoviert«, heißt es beim Deutschen Städte- und Gemeindebund. Der Investitionsrückstand liegt bei rund 100 Milliarden Euro. Das ist eine Summe, die man sich kaum vorstellen kann, aber sie wird noch übertroffen vom Schuldenberg der 133 Milliarden Euro, den die Kommunen vor sich herschieben.

Man kann es aber auch anders sehen: »Noch nie hatten die staatlichen Haushalte soviel Geld zur Verfügung wie heute«, heißt es in einem aktuellen Thesenpapier des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), das, wir ahnen es, im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erstellt wurde. »Die Steuerquellen sprudeln, die Sozialkassen sind reichlich gefüllt. Eine Notwendigkeit für höhere Steuern besteht nicht.« Das ist die Sprache von Kreisen, die keine öffentliche Infrastruktur brauchen, weil sie in einer privat finanzierten Parallelwelt angekommen sind oder das zumindest glauben. Für ihre Geschäfte haftet im Zweifelsfall die Allgemeinheit, schließlich sind sie »systemrelevant«. Wenn sich die Armen einen Sozialstaat wünschen, können sie ihn doch selbst finanzieren. Und wenn sie kein Brot mehr haben, sollen sie eben Kuchen essen.

Und so ist die Prosperität der einen die Krise der anderen. Bankenrettung und Staatsschulden, deutscher Exportboom und Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa, Jobwunder der Kanzlerin und sozialer Abstieg Hunderttausender in schlecht bezahlte Hire&fire-Jobs.

Tatsächlich ist für einen Großteil der Bevölkerung längst ein Zustand permanenter Krise erreicht: In der Rezession droht der Verlust des Arbeitsplatzes, im Aufschwung der Burnout, und jedes Jahr wird es schwieriger, mit dem Geld hinzukommen. So geht es schon lang, viel zu lang. Die spanischen Indignados sind als Wirtschaftsflüchtlinge nach Deutschland emigriert, aber wo bleiben die deutschen Indignados? Ticken wir anders? »Wenn in Frankreich eine Regierung Maßnahmen gegen die Interessen der Mehrheit durchsetzen will, muß sie sich gute Argumente überlegen«, sagt mein Freund Hamani Amadou, Inspektor der Internationalen Transportarbeiterföderation ITF im Überseehafen Rostock. »In Deutschland müssen sie das nicht tun – die öffentliche Meinung macht es selbst, die Medien, die Bevölkerung. Das ist sehr seltsam.« Festgezurrt erscheinen die Verhältnisse.

Die letzten ihrer Art: Ja, es gibt sie noch, Kohleöfen in Berlins Altbauwohnungen, auch in Zeiten von Luxus­sanierungen und Verdrängung. Henry Schulz sorgt dafür, daß die Briketts ins Haus kommen. Er ist Kohlelieferant in der Hauptstadt. Die Bilder in unserer Beilage zeigen ihn bei seiner Arbeit (Fotos: Thomas Peter/Reuters)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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