Mit den Mächtigen anlegen
Von Thomas WagnerWie ist es eigentlich um die politisch engagierte Literatur bestellt? Schlecht, lautet gewöhnlich die Antwort. Kein geringerer als Frank Schirrmacher beklagte ihren »schleichenden, traurigen Niedergang«. Er könne sich noch an eine Zeit erinnern, als »in den Feuilletons praktisch jeden zweiten Tag ein gutes Pfund Blei für eine einzige Textsorte geschmolzen werden mußte. Es handelte sich um die Proteste und Mahnungen des PEN, des Exil-PEN, des VS, des Verbands deutscher Schriftsteller, und etlicher anderer Standesorganisationen der Branche. Sie erschienen an prominenter Stelle mehrfach die Woche. Es ging oft um verfolgte Schriftsteller, viel häufiger aber um die Zerstörung der Demokratie, um die Macht und die Machtlosen, natürlich um Franz Josef Strauß und um den Schoß, aus dem alles Unheil einst kroch.«
Spätestens nach 1989, so der FAZ-Herausgeber weiter, seien die Leser dieser ständigen Petitionen überdrüssig geworden und viele der Autoren hätten sich ins Privatleben zurückgezogen. Nun sei es an der Zeit, sich die Frage zu stellen, »ob die völlige Entpolitisierung von Literatur und literarischem Leben nicht ein ernstes Problem wird. Oder anders gesagt: daß eine große Nachfrage nach einer neuen politischen Literatur in diesem Land besteht.«
Abgesehen davon, daß diese Sätze einmal mehr belegen, daß der FAZ-Herausgeber eine ungeklärte Beziehung zur deutschen Grammatik unterhält, sind sie noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. Denn die wichtigste und daher von Schirrmacher ausgeklammerte Frage lautet: Welches Interesse hat das führende Organ des deutschen Bürgertums ausgerechnet an kritischer Literatur? Für die Vergangenheit läßt sich die Antwort leicht finden. Zur Zeit des Kalten Krieges, als der Gedanke an den Sozialismus den Mächtigen in der BRD noch Furcht einflößte, fanden es die großen Blätter schick, links orientierte Schriftsteller ihre Gedanken vortragen zu lassen. Jedenfalls dann, wenn sich diese nicht nur gegen den Kapitalismus und alte Nazis, sondern auch gegen die Verhältnisse in den sozialistischen Staaten richteten und die Eigentumsfrage dahingestellt sein ließen. So unbequem sie auch waren, diese Autoren kamen konservativen Zeitungsmachern häufig gerade recht, weil sie auf diese Weise die revolutionären Kräfte eher zu schwächen denn zu stärken schienen.
Nach 1989 war die Systemfrage vorerst geklärt, die engagierte Literatur hatte ihren Zweck erfüllt. Seitdem wird behauptet, sie sei verstummt. Die etablierten Meinungsmacher verfahren dabei nach einer perfiden Doppelstrategie. Einerseits schweigen sie die lebendige Wirklichkeit politischer Literatur einfach tot, andererseits nehmen sie immer neue Anläufe, die Verstorbene nach eigenen Vorgaben zu reanimieren. Zuletzt war es Die Zeit, die sich selbst mit einer Serie als Podium für vorgeblich politische Lyrik inszenierte. »Niemand möchte den politischen Intellektuellen vom Typus Sartre zurück«, faßte Schirrmacher die Haltung von seinesgleichen zusammen. Anders herum wird ein Schuh daraus: Zu keiner Zeit waren kritische Stimmen, die sich mit den Mächtigen anlegen, so notwendig wie heute. Daher ist es auch so wichtig, der bürgerlichen Presse die Diskurshoheit in Sachen Kultur- und Gesellschaftskritik streitig zu machen. Die junge Welt ist dafür die geeignete Plattform: offen, diskussionsfreudig, mit klarem Klassenstandpunkt und frei von bürgerlichen Denkverboten.
Thomas Henning: Straßenfotos. Hamburg um 1975. Junius Verlag, Hamburg, 112 Seiten, 24,90 Euro
Sämtliche Abbildungen in dieser Beilage sind diesem Band entnommen und erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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