Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: chile, Beilage der jW vom 31.08.2013

»Um 11.52 Uhr schlugen die ersten Raketen in der Moneda ein«

Gespräch mit Jürgen Scheich. Über den Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende vor 40, die Rolle der CIA und wie die DDR den politisch verfolgten Chilenen geholfen hat
Von Interview: Stefan Amzoll
Ronald Paris, »Aufbruch«, 1974, Gouache
Ronald Paris, »Aufbruch«, 1974, Gouache

Nach dem Studium der Lateinamerikanistik und Geschichte an der Universität Rostock begann Jürgen Scheich in der Hauptabteilung Außenpolitik des DDR-Rundfunks zu arbeiten. 1972 gingen er und seine Familie nach Chile, um in Santiago das Lateinamerikabüro des DDR-Rundfunks aufzubauen. Sie erlebten dort den Staatsstreich vom 11. September 1973 gegen die Regierung von Salvador Allende.


Der Putsch vom 11. September 1973 in Chile war im Leben von Millionen Chilenen ein einschneidendes Ereignis. Einschneidend in anderer Art auch für Sie, der Sie als Rundfunkmann beauftragt waren, das demokratische sozialistische Projekt unter Salvador Allende journalistisch zu begleiten. Hat Sie der Gedanke, daß mit dem Staatsstreich weltweite Hoffnungen zerstört worden sind, jemals verlassen?

Zunächst: es klingt merkwürdig, aber der Putsch hat mich im gewissen Sinne journalistisch rehabilitiert.

Inwiefern?

Ich war damals der jüngste Rundfunkkorrespondent und sollte in Santiago de Chile das Lateinamerikabüro des DDR-Rundfunks aufbauen. Ich war bereits früher in dem Land gewesen. Dieses Mal hatte manches schon etwas Bedrohliches. Kein Wunder: die verdeckten Aktionen der CIA – die Rede ist von über dreißig, davon ein halbes Dutzend im Mediensektor. Die großbürgerliche Zeitung El Mercurio hatte zwischen Herbst 1971 und Frühjahr 1972 über 1,5 Millionen Dollar für Attacken gegen die Allende-Regierung aus den USA erhalten. Wir bekamen vieles zu hören und zu sehen, was uns nachdenklich stimmen mußte. Unseren Berichten fehlte deshalb der optimistische Ton. Im Funkhaus in der Nalepastraße häufte sich die Kritik an dem, was ich berichtete; zumal von anderen DDR-Medien Zuversichtliches verbreitet wurde.

Sie haben als erster die Nachricht vom Putsch gemeldet – 20 Minuten früher als andere – wie Kollegen im Funkhaus bestätigten. Heute nennt man so etwas einen Scoop. Und dennoch wurde der Bericht nicht gleich gesendet. Warum?

Wir hatten früh die Nachricht vom Putsch gehört. Ein Freund, der bestens informiert war, rief an. Und als Allende über Radio Magallanes zu den Chilenen sprach, meldeten wir ein Gespräch nach Berlin an. Wir hatten Glück, denn kurz zuvor hatten wir einen direkten Draht zu ENTEL, dem nationalen Telekommunikationszentrum, bekommen. Und so konnte ich meinen Bericht durchgeben. Reaktion im Rundfunkkomitee – dienstags war immer Komiteesitzung – meine Stimme sei zu erregt. Nun, wenn man in der Einflugschneise nach Tomás Morro, der Residenz Allendes, wohnt, und die Kampfjets bereits ihr Ziel im Visier haben, dann ändert sich schon der Sprechduktus. Der DDR-Rundfunk hat damals eine große Chance vergeben, führend bei der Information über die Vorgänge in Chile zu berichten, sagten mir nach meiner Rückkehr in die DDR Kollegen.

Wie haben Sie das Desaster des 11. September 1973 erfahren?

Normal war kaum noch etwas nach dem Anruf. Allendes fünfte und letzte Rede hatte Radio Magallanes kurz zuvor noch übertragen. Dann schwieg auch dieser Sender. Fortan waren nur noch die Stationen der Putschisten zu hören. Sie forderten Allende zum Rücktritt auf. Dem Präsidenten und seinen Mitstreitern, die sich in der Moneda aufhielten, erschloß sich erst allmählich die Lage. Zunächst gingen sie davon aus, daß die Marine allein zu putschen versucht. Sie war am Vortag zu Kriegsübungen mit der US-Navy ausgelaufen, in der Dunkelheit der Nacht zum 11. September aber nach Valparaiso zurückgekehrt und hatte sogleich mit der Besetzung der zweitgrößten Stadt Chiles begonnen. Anhänger Allendes wurden gejagt.

Wie reagierte die DDR-Botschaft in Santiago?

Am Nachmittag kam der Anruf, daß wir in die Botschaft kommen sollten. Für uns begann eine Zeit des Wartens. Indes wurde sie unterbrochen, als ich mit unserem Konsul in die Militärakademie mußte. Landwirtschaftsexperten unseres Landes waren von einer Patrouille aufgegriffen worden. Auf dem Gelände der Militärakademie schien es drunter und drüber zu gehen. Wir suchten unsere Landsleute und entdeckten sie auf einer Freitreppe. Streng bewacht von Soldaten. Wer war der zuständige Offizier? Endlich fanden wir einen Obristen im nagelneuen Kampfanzug, der um den Bauch etwas spannte. Er bedauerte, daß ausgerechnet Deutschen dies passierte und wie sehr er Hitler bewunderte. Bevor unser Konsul ihn über die beiden deutschen Staaten und daß wir aus einem antifaschistischen Land kämen, aufzuklären versuchte, unterbrach uns ein anderer Offizier, wir könnten gehen – welche Erleichterung – mit unseren Landsleuten. Wir erhielten militärische Begleitung, damit wir noch vor Beginn der Ausgangssperre, die wiederholt verschoben worden war, aber diesmal 18 Uhr endgültig beginnen sollte, sicher die Botschaft erreichen.

Leben in der Botschaft. Wie funktionierte es, und wie lange währte der Aufenthalt?

Das Leben in dem nicht allzu großen Haus mußte für Dutzende Familien, zum Teil mit Kindern organisiert werden. Die nach wie vor unübersichtliche Lage mußte – soweit wie möglich – beobachtet und analysiert werden. Immer wieder waren Schüsse zu hören. Es gab also Widerstand. Die kubanische Botschaft wurde angegriffen. Ihr Personal noch in der Nacht ausgewiesen. Auch uns drohte möglicherweise ein ähnliches Schicksal. Dann ein Telegramm von Zuhause, der Junta sei auf jeden Fall zuvorzukommen. Sobald es möglich war, sollte Botschafter Friedel Trappen die »Unterbrechung« unserer Beziehungen zu Chile im Außenministerium mitteilen.

Was bedeutete »Unterbrechung«?

Ein kleiner Rest von Botschaftsangehörigen blieb in Santiago. Sie halfen verfolgten Allende-Anhängern. Bei einem kompletten Abbruch wäre das kaum möglich gewesen. Und wir erhielten neben vielen Informationen auch wichtige historische Dokumente. Der Direktor von Radio Magallanes schickte uns eine Kopie der letzten Allende-Rede in die Botschaft. Inzwischen zogen Carabineros vor der Botschaft auf. Eine Zeit der Ungewißheiten begann.

Der Plan der Putschisten sah auch das Bombardement der Moneda, des Präsidentensitzes vor – ein einmaliger Vorgang für das südamerikanische Land. Wer waren die Planer?

Der Plan soll vom Luftwaffenchef Leigh und seiner Clique stammen. Sie wollten sich damit auch innerhalb der neuen Machthaber eine vorrangige Rolle sichern. Und: noch nie hatte es in Chile ein Bombardement aus der Luft gegeben. Es hat seine Wirkung nicht verfehlt. Im Grunde waren die Parteien der Unidad Popular auf einen solchen brutalen Staatsstreich in keinerlei Weise vorbereitet, auch der MIR nicht, die linksradikale Bewegung, die am ehesten darüber öffentlich nachgedacht hatte.

War Allende in dem Punkt zu leichtgläubig?

Allende vertraute der Kraft des Volkes, für das er Chile, ein an Rohstoffen reiches Land, verändern wollte. Und er glaubte an persönliche Freundschaften, an Loyalität. Und Allende war Freimaurer wie Pinochet. Manchmal, wenn er im vertrauten Kreis nach Pinochet gefragt wurde, erinnerte er daran.

Pinochet – ein Freimaurer? Freimaurer vertraten einst Ideenwelten der Aufklärung, denken wir an Mozart. Gibt es Hinweise, aus welchem Plüsch die Loge geschneidert war, der Pinochet angehörte?

Pinochet trat mit 25 Jahren der Freimaurerloge bei. Anderthalb Jahre später schied er aus, weil er den Sitzungen fernblieb und seine Beiträge nicht entrichtete. Und es stellten sich Zweifel ein, ob sein intellektuelles Niveau ausreicht, um die Prinzipien der Freimaurer zu verstehen. Ob Allende darüber unterrichtet war, weiß ich nicht. Übrigens die Loge, in der Allende Mitglied war, wurde nach dem Putsch gleich aufgelöst. Daß die Freimaurer ihren Mitgliedern Hilfe nicht leisteten – so dem General Bachelet, der im Kabinett von Allende einige Zeit für die Versorgung zuständig war, hat in den neunziger Jahren zu heftiger Kritik unter ihnen geführt.

Sind Sie irgendwann mit Allende in Berührung gekommen?
Ronald Paris, »Ensemble Quila pajun«, 1974, Gouache
Ronald Paris, »Ensemble Quila pajun«, 1974, Gouache

Ja. Bei diversen Pressekonferenzen, bei Reden vor seinen Anhängern. Und zu Anfang des Jahres 1973 bei einem Empfang für Journalisten. Allende war eloquent, witzig und er besaß Empathie. Er war dem Leben zugewandt; ein biophiler Mensch halt. Und er war ein politischer Aufklärer mit Charme.

Und doch hat er sich in mancher Hinsicht geirrt – mit schweren Folgen für ihn und das Land. In Pinochet beispielsweise. Hat er diesem scheinbar loyalen Militaristen wirklich vertraut?

Pinochets Vorgänger als Heereschef, General Carlos Prats, hatte ihn empfohlen. Es ging dabei auch darum, die hierarchische Ordnung innerhalb der Streitkräfte nicht durcheinander zu bringen. Vielleicht lag der Irrtum auch darin, daß Allende Pinochet für etwas einfältig hielt. Der Verrätergeneral, so die Erinnerungen von Carlos Prats, hat sich spät den Putschisten angeschlossen. Noch zwei Tage vor dem Putsch nahm Pinochet an einer Geburtstagsfeier teil, die Allende für eine seiner Töchter gab. Er erfuhr dabei, daß der Präsident eine Rede vorbereitet und diese am 10. September in der Technischen Universität in Santiago halten wollte, um aus der angespannten politischen Situation herauszufinden. Allende wollte drei Optionen vorschlagen: a) ein Plebiszit; b) ein Übereinkommen mit dem Christdemokraten; c) eine Regierung der nationalen Sicherheit mit Militärs. Dazu kam es nun nicht mehr. Pinochet empfahl einen Tag später, wohl wissend, wann es zum Staatsstreich kommen würde. Pinochet hat sie alle getäuscht. Am 11. September 1973 um 11.52 Uhr schlugen die ersten Raketen in die Moneda ein.

Er ließ die Maske fallen. – Was bescherten Ihnen die Tage nach dem Putsch?

Wir waren in der Botschaft in relativer Sicherheit. Vor dem Gebäude war Polizei aufgezogen. Erst am 15. September durften wir die Botschaft verlassen. Wir hörten, es gäbe eine Pressekonferenz im Sheraton-Hotel. Ein Oberst gab Erklärungen ab. Gespenstisch. Dann das Angebot, die Moneda zu besichtigen. Federico Willoughby-Mac Donald, der einzige Zivilist unter den Militärs, führte uns. Noch immer qualmte es im Gebäude. Wir stiegen über Trümmer zum ersten Stock; betraten den Raum, wo Allende sich erschossen hatte. Wir verließen still die Moneda. Vor dem zerschossenen Haus eine Prozession schweigender Menschen.

Es war ja ein offenes Geheimnis, daß die USA und die einheimische Großbourgeoisie Allendes Präsidentschaft verhindern wollten. Seitens der USA sollte der »Hinterhof« rein gehalten, sprich ein zweites Kuba verhindert werden. Wann und unter welchen Umständen begann die Konspiration gegen Allende?

Schon in den sechziger Jahren. Allende hatte sich viermal um das höchste Amt in Chile beworben. 1952 das erste Mal. Sechs Jahre später brachte er den Kandidaten der Rechten erheblich in Bedrängnis. In- und ausländische Gegner von Veränderungen in Chile waren gewarnt; zumal zu dieser Zeit die kubanische Revolution erheblich an Fahrt gewonnen hatte. Washington zeigte sich mehr als beunruhigt. 1961 verkündete der US-Präsident die »Alliance for Progress«, die mit einer Finanzspritze über viele Millionen Dollar die lateinamerikanischen Länder gegen das kubanische Beispiel immunisieren sollte. Auf Chile richtete sich die Aufmerksamkeit besonders, weil dort die Volksbewegung erstarkt war. Edward Malcolm Korry, US-Botschafter in Chile von 1967 bis 1971, gab unverblümt zu, daß die CIA zur Stärkung der chilenischen Christdemokraten 2,6 Millionen Dollar zahlten und auch europäischen Christdemokraten Geld zusteckten, damit diese es ihren chilenischen Freunden zukommen ließen. So bekamen die italienischen Christdemokraten und die westdeutsche CDU erhebliche Dollarsummen zu diesem Zweck, erzählt Korry.

Korry – ein Menschenverächter der übelsten Sorte, wovon es heute ganze Scharen gibt.

Er selbst hatte gedroht, wenn Allende an die Macht käme, »werden wir alles in unserer Macht tun, um Chile und alle Chilenen zu äußerster Entbehrung und Armut verurteilen«. Und die CIA-Dependance in Santiago kriegte Order: »Weiter bestehendes, klares Ziel ist der Sturz Allendes durch einen Putsch. Es wäre wünschenswert, wenn dies noch vor dem 24. Oktober zustande käme, doch Bemühungen in dieser Hinsicht werden über dieses Datum hinaus unvermindert verfolgt.«

1964 erreichten es die USA und ihre chilenischen Verbündeten, Allende um den Wahlsieg zu bringen. 1970 gelang das nicht.

Die Reformversprechen von Eduardo Frei reichten nicht für einen tiefgreifenden Wandel, den Chile brauchte. Das hatte die nationale Bourgeoisie auch nicht im Sinne. Sie strebte eine größere Teilhabe an den Gewinnen der einheimischen Wirtschaft an. So »chilenisierte« Frei die Kupferproduktion, die bislang in der Regie US-amerikanischer Kupferkonzerne lag. Der chilenische Staat übernahm 51 Prozent der Aktien. Auch gab es ein Gesetz zur Agrarreform. Siedlungsgenossenschaften sollten geschaffen werden. Aber all das reichte nicht aus, um Armut, geringe Bildung, schlechtes Gesundheitswesen, unzureichende Infrastruktur aus der Welt zu schaffen. Das Programm der Unidad Popular, das hier Veränderungen versprach, wurde somit attraktiver. Und Allende hatte auch Zustimmung unter den Christdemokraten erreichen können. Damit waren ihm die nötigen Stimmen im Kongress sicher. Und Allende ging zügig an die Umsetzung seines Programms. Mit der Erhöhung der Löhne und Verbesserungen im sozialen Bereich ging es fortan den ärmeren Schichten im Lande erheblich besser. Die Unidad Popular, das Allende tragende Sechs-Parteien-Bündnis, bekam mehr und mehr Zulauf.

Zugleich hatte sich die politische Landschaft um Chile herum verändert. Was wäre da hauptsächlich zu nennen?

In Peru hatten linke Militärs die Macht übernommen. Sie verstaatlichten die Erdölindustrie und weitere wichtige Wirtschaftsbereiche. Im benachbarten Bolivien hatten ebenfalls linke Offiziere unter Juan José Torres, wenngleich nur für kurze Zeit, obsiegt. Das politische Klima hatte sich also auch für einen Linksruck in Chile verbessert. Freilich, Allende bekam zwar am 4. September 1970 die meisten Wählerstimmen aber nicht die absolute Mehrheit, mußte also vom Kongreß bestätigt werden. Der linke Flügel der Christdemokraten war dazu bereit. Allendes Gegner taten nun alles, um seine Wahl durch den Kongress zu verhindern.

Furore machte seinerzeit weltweit das Attentat auf René Schneider, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte.

Ein verfassungstreuer Soldat, der die Wahl Allendes im Kongreß akzeptieren wollte. Am 22. Oktober überfiel ein rechtes Kommando, von CIA-Agenten dirigiert und von ihnen mit Waffen versorgt, den General, um ihn zu entführen. Schneider wehrte sich mit der Waffe und wurde von den Entführern schwer verwundet. Drei Tage später verstarb er. Übrigens, die Söhne von General Schneider haben am 10. September 2001 Anzeige gegen Henry Kissinger erstattet, dem seinerzeitigen Sicherheitsberater von Präsident Nixon, den sie als einen der Verantwortlichen für den Mord an ihren Vater halten.

Der Sieg Allendes hat in der DDR viel Aufmerksamkeit und enormen Zuspruch erregt. Nicht minder in der westdeutschen Linken. Die amtlichen Reaktionen in beiden deutschen Staaten drifteten indes weit auseinander.

Allende hatte zu allen Ländern gute Beziehungen angestrebt, auch diplomatische zur DDR. Das hatte natürlich Bonn auf den Plan gerufen, es schickte Karl-Heinz Sohn, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, als Sonderbotschafter zu Allende und dessen Außenminister Almeyda, um gegen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu intervenieren. Santiago ließ sich zwar Zeit mit der Aufnahme. Im April 1971 aber war es dann soweit. Die Hallstein-Doktrin hatte auch im Chile Allendes keine Wirkung mehr.

Profitierten davon die Beziehungen zwischen der DDR und Chile?

Im Großen und Ganzen ja. Natürlich gemessen an den Möglichkeiten, welche die beiden Staaten hatten. Um nur dies zu nennen: Chile erhielt von der DDR einen größeren Devisenkredit, den es mit Kupferlieferungen beglich. Experten halfen in verschiedenen Bereichen. Die Bundesrepublik fuhr die Hilfe für das südamerikanische Land um ein Drittel zurück.

Und nun der Putsch. Die DDR, deren Botschaft selbst gefährdet war, half verfolgten Allende-Anhängern. Und der andere deutsche Staat?

Die BND-Residentur in Santiago hatte vorab vom Putsch erfahren und nach Pullach gemeldet, von wo die Nachricht bald das MfS erreichte. Die chilenischen Freunde zu informieren, gelang nicht mehr. Es hätte auch nichts genützt. Diese hatten inzwischen selbst Kenntnis vom Putsch und auf organisierte Gegenwehr waren sie ohnehin nicht vorbereitet.

Ronald Paris, »Erschießung«, 1974, Gouache
Ronald Paris, »Erschießung«, 1974, Gouache
Der Putsch löste seinerzeit weltweite Reaktionen aus. Sind dieselben – Akklamationen wie Proteste – in Chile publik geworden?

Einiges drang schon durch. So das Angebot der DDR, politisch Verfolgten Asyl zu geben. Viele flüchteten in die DDR-Botschaft, die jetzt unter dem Schutz Finnlands stand. Fast 1400 Chilenen lebten vorübergehend in der DDR im Exil, darunter mehrere Minister der Allende-Regierung, einige wurden mir gute Vertraute.

Und die Bundesrepublik?

Es gab auch dort große Protest- und Solidaritätsbewegungen. Ende Oktober 1973 öffnete auch deren Botschaft ihre Tore für politisch Verfolgte. Hans-Jürgen Wischnewski flog im März 1974 im Auftrag von Bundeskanzler Brandt nach Chile, um dort Politiker der Unidad Popular zu kontaktieren, die auf der unwirtlichen Insel Dawson im äußersten Süden gefangengehalten wurden. Ihre sofortige Freilassung erreichte aber auch er nicht. CDU und CSU reagierten auf ihre Weise. Franz-Josef Strauß schrieb im Bayernkurier: »Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.« Und CDU Generalsekretär Bruno Heck meinte nach Rückkehr aus Chile in der Süddeutschen vom 18. Oktober 1973: »Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.« Die Inhaftierten im Nationalstadion von Santiago haben es anders in Erinnerung.

Nun, für das »Chaos« hatten bekanntlich die Allende-Gegner gesorgt, die Handel und Verkehr boykottiert hatten.

Dies war offensichtlich. Die Fuhrunternehmer streikten wiederholt und legten so die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Gütern lahm. Lastkraftwagen waren das wichtigste Transportmittel in diesem 4000 Kilometer langen Land. Wenn ihre Besitzer zum Boykott aufriefen, dann war Chaos programmiert. Gelder erhielten sie von der CIA, wie sie später selbst zugaben. Und dann gab es auf Druck der US-amerikanischen Kupferkonzerne einen Boykott chilenischen Kupfers, der wichtigsten Devisenquelle auf dem Weltmarkt. Zugleich kam es wiederholt zu Landbesetzungen von linksradikalen Gruppen, die damit den Gegnern der Allende-Regierung in die Hände arbeiteten.

Welche Hilfe gab es nach der Unterbrechung der Beziehung?

Es blieb ein knappes Dutzend DDR-Bürger in Santiago zurück. Dazu kam Verstärkung vom MfS aus Berlin, die den operativen Teil der Hilfe übernahm. Sie brachten Carlos Altamirano, den Generalsekretär der Sozialistischen Partei, einen der meistgesuchten Politiker, außer Landes. Im Dezember 1973 verließ eine erste größere Gruppe die diplomatische Vertretung.

Und Sie mit Ihrer Familie?

Die Familie flog mit dem Gros der DDR-Bürger wenige Wochen nach dem Putsch nach Hause. Ich blieb allein zurück. Und es war gut so, denn die Gefahren waren groß. Einmal im Räderwerk dieser Schergen – nicht auszudenken. In diesen Wochen ging es auch darum, arbeitslose chilenische Freunde zu unterstützen, die im Lande geblieben waren. Über sie erhielt ich auch wichtige Informationen, wie die neuen Machthaber vorgingen. Im Oktober 1973 flog General Arellano Stark nach Nordchile mit einer Sondervollmacht Pinochets, um Anhänger Allendes zu liquidieren.

Die ersten Wochen verliefen offensichtlich auch in den Reihen der Militärs anders als von der Juntapropaganda dargestellt.

Ja, so unangefochten war damals die Stellung Pinochets keineswegs. Innenminister General Bonilla hatte nach dem Besuch eines Folterzentrums den dortigen Kommandeur abgesetzt, einen engen Kumpan von Pinochet. Bonilla kam kurz darauf bei einem Hubschrauberunglück ums Leben. Auch die Techniker des französischen Unternehmens, die das Unglück untersuchten, ereilte ein solches Schicksal. Und dann galt es in diesen Wochen, politisch Verfolgte in Sicherheit zu bringen. Viele kamen in der DDR-Botschaft und in ihren Dependancen unter. Sie mußten versorgt werden. Ende des Jahres konnte eine große Gruppe, die bei uns Zuflucht gefunden hatte, ausreisen. Auf der Terrasse des Flugplatzes in Santiago standen Angehörige. Plötzlich Rufe: Allende presente – Allende ist präsent. Momente der Angst. Würden die Agenten des Regimes eingreifen? An diesem Tag reiste auch der schwedische Botschafter Harald Edelstam aus. Die Militärjunta hatte ihn zur persona non grata erklärt. Edelstam war unter den westlichen Diplomaten eine überragende Figur. Er half Verfolgten wie kein zweiter. Im Film »Schwarze Nelke« wird ihm ein Denkmal gesetzt.

Was charakterisierte diesen Mann?

Er hatte Charakter und Zivilcourage. Er holte aus dem Nationalstadion Verhaftete heraus. Im Chile Allendes hatten auch viele politische Flüchtlinge aus Brasilien, Bolivien, Uruguay und Argentinien Aufnahme gefunden. Sie waren besonders gefährdet. Geheimdienstagenten ihrer Länder hielten sich schon seit längerem in Chile auf. Edelstam sorgte für den Schutz der kubanischen Botschaft. Er wurde bedroht und schließlich ausgewiesen.

Pinochet hat Chile 17 Jahre beherrscht. Mit welchen Folgen?

Pinochet herrschte mit äußerster Gewalt. Politische Gegner verschwanden spurlos. Über 1300. Seine Agenten begingen Attentate auch im Ausland. Am 30. September 1974 wurde General Carlos Prats in Buenos Aires ermordet. Am 21. September 1976 Orlando Letelier, der frühere Außenminister Allendes in Washington. Am 6. Oktober 1975 Bernardo Leighton in Rom angeschossen. Schwer verletzt überlebte der ehemalige Innenminister der Frei-Regierung das Attentat von italienischen Rechtsextremisten, die mit Pinochets Geheimdienst Kontakt hatten.

Generell auszuschließen ist, derlei hätte sich in der DDR ereignen können.

In der DDR hatten viele enge Mitarbeiter Allendes Zuflucht gefunden. Ihr Schutz oblag nicht zuletzt dem MfS.

40 Jahre nach dem Putsch. Ist in Chile der venezolanische Weg denkbar?

Keineswegs. Die bisherige Politik seit Mitte der 1970er Jahre hat sich für eine kleine Schicht ausgezahlt, deren herausragender Vertreter der heutige Präsident ist – ein Multimillionär. Zwei große Medienkonzerne sorgen noch für eine mehr oder weniger unpolitische Gesellschaft. Diese ist in der Tat zutiefst fragmentiert. Von der politischen Agonie, in die Pinochet und seine Clique das Land getrieben haben, beginnt es sich nur langsam und zaghaft zu erholen. Die Mitte-links-Regierungen haben viele ihrer Wähler enttäuscht. Bei den letzten Kommunalwahlen im Oktober vorigen Jahres war der Anteil der Nichtwähler bedenklich hoch, so daß die Zeitung El Mercurio schrieb, daß die Nichtbeteiligung eine »Tatsache von großer politischer Bedeutung ist, die nicht nur die politische Klasse in Alarm versetzen sollte, sondern alle Sektoren des Landes«. So geht Chile in die nächste Präsidentschaftswahl am 17. November 2013. Die Pinochetsche Verfassung von 1980 ist mit einigen Abänderungen noch in Kraft, das binominale Wahlrecht, das die beiden stärksten Parteien bevorzugt, kleinere Parteien ausschließt.

Wer der beiden Bewerberinnen wird es ändern? Michelle Bachelet oder Evelyn Matthei?

Beide sind Töchter von Luftwaffengeneralen, die auf unterschiedlichen Seiten standen. Bachelets Vater, Alberto Bachelet, der nach Folterungen starb, war in der Regierung Allendes. Matthei Jahre später in der Junta. Beide erinnern nolens volens an eine Vergangenheit, die über 40 Jahre zurückliegt, aber nicht vergehen will. Die beiden Töchter selbst haben unterschiedliche Wege zurückgelegt. Michelle Bachelet, ebenso wie ihre Familie verfolgt und ins Exil getrieben, hat in der DDR Medizin studiert. Zurückgekehrt nach Chile hat sie einen politisch beachtlichen Aufstieg absolviert. Sie war Gesundheits- und Verteidigungsministerin im Kabinett von Ricardo Lagos, bevor sie dessen Nachfolge als Staatsoberhaupt antrat. Ihr werden auch für diesen Urnengang die meisten Chancen eingeräumt.
Die Illustrationen zu dieser Beilage sind Teil der Ausstellung  »Es gibt kein Vergessen – Der faschistische Putsch in Chile im Spiegel von Künstlern der DDR  Der Abdruck der Graphiken und Gemälde erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Willi Sitte Stiftung für realistische Kunst Merseburg, Hanny ­Womackas und Prof. ­Ronald Paris’.

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