Aus: Literatur, Beilage der jW vom 11.12.2013
Afrika– Lesen als Befreiung
Von Interview: Raoul WilstererDenis Goldberg wurde 1933 in Kapstadt als Sohn jüdischer Eltern geboren. Der Aktivist des von Nelson Mandela geleiteten bewaffneten ANC-Arms »Umkhonto We Sizwe« (Speer der Nation) wurde im Rivonia-Prozeß 1963/64 zu »viermal lebenslänglich« verurteilt. Als Weißer wurde er nicht mit seinen Gefährten um Mandela auf Robben Island, sondern in einem Apartheidgefängnis in Pretoria inhaftiert. Nach 22 Jahren Gefängnis kam er frei und arbeitete ab 1985 für die Befreiungsbewegung zunächst im Londoner Exil. Er war ANC-Vertreter im Anti-Apartheid-Ausschuß der UNO. Zurück in Südafrika, war der Bauingenieur Berater des Ministers für Wasser- und Forstwirtschaft. Goldberg ist Mitglied der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP).
Denis Goldberg referiert am 11. Januar 2014 auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin zum Thema »Afrika als Ziel neokolonialer Ordnungskriege«.
F: Ihre Eltern siedelten 1929 von London nach Kapstadt um. Befanden sich in ihrem Gepäck auch Bücher?
Das weiß ich nicht. Klar ist, daß sie viel lasen und mit Freunden darüber redeten. Ende der 1930er Jahre besaßen wir so manche Veröffentlichung aus der Buchgemeinschaft »Left Book Club« von Victor Gollancz, dem Gründer von Penguin und Pilican. Er brachte die klassische, moderne und auch sozialkritische Literatur zu günstigen Preisen heraus. In unserem Bücherregal standen die gesammelten Werke der »Four Great Masters« (Die Vier Großen Lehrmeister). Ich gestehe, die waren schwer zu genießen. Aber wir besaßen auch Einführungen in den Marxismus-Leninismus und in den historischen und dialektischen Materialismus, die gut geschrieben und leicht verständlich waren. Sie eröffneten mir Wege, die komplexen Zusammenhänge von Produktionsweise und Produktionsverhältnissen zu verstehen. Zudem weckten sie das Bedürfnis, Geschichte und Gesellschaft zu analysieren, die progressiven und reaktionären Bestandteile herauszufinden.
F: Welche Bücher aus der Kinderzeit haben auf Sie einen die Zeiten überdauernden Eindruck gemacht?
Als ich klein war, lasen mir meine Eltern aus Kinderbüchern vor. Im Alter von fünf und sechs saß ich auf Vaters Schoß, wenn wir abends zusammen in die Zeitung schauten und ich mir den Sinn von Schlagzeilen zusammenreimte. So lernte ich 1938/39 das Lesen, erfuhr vom japanisch-chinesischen Krieg und der drohenden Kriegsgefahr in Europa. Ich wußte von der rassistischen Politik Südafrikas. Meine Sicht auf Recht und Unrecht, Sozialismus, Kapitalismus und Klassenkampf wurde vom linken Guardian geprägt. Nach der Einschulung verschlang ich Bücher aus der kleinen Bibliothek im Klassenraum mit Geschichten aller Art. Kapstadt ist eine Hafenstadt. Als Jungs gingen wir zu den Docks, redeten mit den Seeleuten von den Handelsschiffen aus aller Herren Länder. Mir gefielen die Geschichten über Reisende, die auf brüchigen Dampfern einfach losfuhren. Ich erinnere mich an das Buch des US-Autoren RH Dana »Two Years before the Mast« (Zwei Jahre vor dem Mast), der das brutale Leben des Seemanns zu Zeiten der Segelschiffe beschreibt. Dann lieh mein älterer Bruder für mich in der Bücherei Jack Londons »Ruf der Wildnis« und »Wolfsblut« aus, aber auch Romane von sozialistischen Autoren wie Upton Sinclair, dessen »Dschungel« über die Ausbeutung in den Schlachthöfen von Chicago. Da war ich so zwölf, und später kamen dann Sinclair Lewis’ »Babbit«, Biografien von kämpferischen Gewerkschaftern …
F: Das war schon während des Zweiten Weltkriegs …
Aus Büchern habe ich damals gelernt, daß man, um die Nazis zu schlagen, mutig und bereit sein muß, sein Leben zu geben. Ich las von den berühmten sowjetischen Teenagern Zoya und Schura, heldenhafte Partisanen, von Timur und seinen Genossen (»Timur und sein Trupp« von Arkadi Gaidar) und Geschichten von tapferen britischen und amerikanischen Kämpfern, vom französischen Maquis und von den Partisanen Titos.
F: Und nach dem Krieg – woran erinnern Sie sich besonders?
Da erschien nach und nach Upton Sinclairs Lanny-Budd-Zyklus, ein zwölfbändiges Werk über den Sohn eines Industriellen, der aufgrund von Status und Reichtum seines Vaters Zugang zu den Spitzen der Politik erhielt. Er nutzte die daraus erwachsende relative Unantastbarkeit dazu, die Linke, den sozialistischen und kommunistischen Widerstand in Deutschland und anderswo zu unterstützen. Und ich erfuhr viel über internationale Politik und die Beziehungen zwischen Schwerindustrie, Banken und Regierungen, die mit Waffengeschäften Kriege vorbereiteten.
Howard Fasts Romane über den Kampf der Völker faszinierten mich; »Spartacus«, der Sklave aus dem Römischen Reich, brachte mir die Arbeiterkämpfe der modernen Zeiten nahe. Mit Vergnügen las ich Krimis mit guten Plots, die Geschichten von Eric Ambler.
F: Die jüngst verstorbene Schriftstellerin Doris Lessing lebte damals ebenfalls im Süden Afrikas und beschrieb die rassistischen Strukturen sehr genau. Wie haben sie deren Romane wahrgenommen?
Doris Lessing schrieb in den 1950er Jahren über den Zustand der britischen Kolonie Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, eine Romanreihe. Sie schuf den Charakter Martha Quest – »Quest« steht für »suchen«: Eine junge Weiße sucht nach Antworten auf die Frage, warum die Kolonialgesellschaft die Einheimischen unterdrückt, warum die Menschen rassistischen Praktiken und Gesetzen unterworfen wurden. Sie findet die Antwort durch den Kontakt zu einem Flieger aus der britischen Arbeiterklasse, einem Marxisten, und zu kommunistischen Flüchtlingen aus Nazideutschland. In Lessings Geschichten lag ein starker autobiografischer Zug, die Autorin war mit dem Flüchtling Gottfried Lessing verheiratet. Solche Stories waren aufregend. Sie halfen mir, die Apartheid zu verstehen.
F: 1960 wurden Sie erstmals verhaftet. Das war in der Phase des Ausnahmezustands nach dem Massaker von Sharpeville. Das Gefängnis in Kapstadt war grauenhaft, schreiben Sie einerseits. Aber auch: »Das Gefängnis war auszuhalten«. Gab es die Möglichkeit zu lesen?
Einige Bibliothekare der dortigen Provinzbücherei waren Freunde von uns und stellten manche wunderbare Auswahl zusammen. Zwei Bücher stehen dabei für viele: Basil Davidsons »Mother Africa« und »Old Africa Rediscovered«. Der Journalist Davidson verband archäologisches und historisches Material mit den Erzählungen und Berichten von meist europäischen Reisenden und Entdeckern sowie einer multidisziplinären Forschung. So trat er dem Mythos entgegen, es habe vor den Weißen keine afrikanische Geschichte gegeben. Also, diese vier Monate hinter Gittern wurden für die politischen Gefangenen – allesamt Weiße, die Schwarzen waren in einem anderen Trakt eingesperrt – zu einer fortgesetzten Studiensession.
F: Danach wurden die Bedingungen, sich politisch zu betätigen, immer schwerer. Das Apartheidregime agierte äußerst brutal. 1963 gingen Sie in den Untergrund als Mitglied der bewaffneten ANC-Widerstandsorganisation »Speer der Nation« (Umkhonto we Sizwe«, MK). Sie haben als Bauingenieur geholfen, die Infrastruktur anzugreifen: Strommasten, Rundfunksender, Umspannstationen, Kraftwerke, Institutionen der Apartheid. Sie waren Kommandant und Trainer im Ausbildungscamp. War das der Abschied von der Literatur?
Das war es. Zwischen 1961 und 1964 waren wir zu beschäftigt, da blieb keine Zeit zu lesen. Die Verhaftung auf der Liliesleaf Farm in Rivonia, dem Untergrund-Hauptquartier des MK, bedeutete Knast ohne Zugang zu Büchern während dreier schmerzerfüllter Verhörmonate. Die folgenden acht Monate des Rivonia-Prozesses beförderten auch nicht gerade die Stimmung, lesen zu wollen – letztlich kämpften wir um unser Leben!
F: Der »Speer der Nation« wollte den Guerillakampf nach kubanischem Vorbild führen. Gab es überhaupt Literatur dazu?
Ernesto Che Guevaras »Guerilla Warfare« kursierte illegal und wurde unser Handbuch. Allerdings hat Guevara darin einige wesentliche Aspekte, die zum Erfolg geführt hatten, nicht geschildert: speziell die Streiks und die Unterstützung der Kämpfenden durch die arbeitenden Menschen auf Kuba. Sie banden Kräfte des Batista-Regimes und hielten diese streckenweise von der Verfolgung der Granma-Kämpfer ab. Die Existenz einer bewaffneten Kraft macht noch keine revolutionäre Situation aus. Wir wußten, daß die Unterstützung durch das Volk wesentlich war. Das ANC-Bündnis verfolgte eine Politik der Massenmobilisierung durch Streiks, Proteste und Kampagnen zivilen Ungehorsams.
F: Ihre Gefangennahme am 11. Juli 1963 bedeutete: Einzelhaft, isoliert, 90 Tage lang, endlose Vernehmungen, Drohungen mit der Todesstrafe. Ihr Fluchtversuch scheiterte. Wie haben Sie die Zeit durchgestanden? Auch mit Hilfe von Geschriebenem?
Erst später, kurz nach dem »Lebenslänglich«-Urteil, fand ich wieder Zugang zu Büchern. Uns wurde erlaubt, ein Fernstudium an der Universität von Südafrika aufzunehmen. Dafür zu lesen, war absolut anregend und aufregend. Obwohl von der Gefängniszensur alles scharf kontrolliert wurde, halfen uns Geschichte, Wirtschaft, politische Philosophie dabei, uns mental zu stabilisieren. Wir waren ja vollständig von Nachrichten und dem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten, mal abgesehen von einem Brief in sechs Monaten.
Irgendwann durften wir ein oder zwei Bücher monatlich selbst kaufen. Das Geld erhielten wir von der Familie oder Freunden. Daraus entstand eine exzellente Sammlung, die wir uns teilten. Darin befand sich alles von Nadine Gordimer. Sie faszinierte uns mit ihren genauen und detaillierten Beobachtungen.
F: Vater und Mutter starben, während Sie eingesperrt waren. Sie durften nicht zur Beerdigung und ließen sich – wenn man so will – durch Bertolt Brecht vertreten. Wie kam das?
Über 14 Jahre, bis zum Ende meiner Haftzeit, besuchte mich Hillary Kuny (später: Hillary Hamburger). Sie betreute auch meinen Vater, und ihr wurde erlaubt, mich über dessen Tod 1979 zu informieren. Ein Freund, der Intendant des berühmten Market Theatre, Barney Simon, bot an, an meiner Stelle das Brecht-Gedicht »An die Nachgeborenen« auf der Beerdigung vorzutragen. Es war mehr als geeignet, verlesen zu werden zu Ehren eines Kommunisten und Gewerkschafters, der im – wie Brecht es nannte – »Krieg der Klassen« organisiert war. »Die wir den Boden bereiten für Freundlichkeit/ Konnten selber nicht freundlich sein/ Ihr aber, wenn es soweit sein wird/ Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist/ Gedenkt unsrer/ Mit Nachsicht.« Ich hatte es von meinem Vater und meiner Mutter gelernt.
F: Und heute – was lesen Sie gerade? Oder anders: Wie steht es um Ihre Bücherleidenschaft?
Ehrlich gesagt, bin ich oft müde. Das Lesen fällt mir schwer. Auch verspüre ich den Zwang, meine eigene Geschichte vom Kampf gegen Ausbeutung, Vorurteile, Engstirnigkeit und für Toleranz zu erzählen. Ich reise nach Europa und rede und rede. Die Liebe zu Büchern bleibt, auch zu Krimis mit sozialem Anspruch wie Stieg Larssons junge Frau mit dem Drachen-Tattoo.
BU: Die Bilderstrecke dieser Literaturbeilage zeigt mit einer Ausnahme Impressionen aus dem Alltag und der Arbeitswelt in Somalias Hauptstadt Mogadischu, Seite 1 eine angolanische Buchverkäuferin bei der Arbeit in Luanda.
Bücher von und über Denis Goldberg
Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Denis Goldberg – Freiheitskämpfer und Humanist. Festschrift zu Goldbergs 80. Geburtstag, mit Beiträgen von 30 Autoren. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2013, 240 Seiten, 19,90 Euro
Denis Goldberg: Der Auftrag. Ein Leben für die Freiheit in Südafrika. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 304 Seiten, 19,90 Euro
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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