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Aus: Marxismus, Beilage der jW vom 16.04.2014

Krieg vor dem Krieg

Das öffentliche Interesse am Ersten Weltkrieg ist 2014 groß, über seine Ursachen herrscht allerdings Schweigen. Aus gutem Grund
Von Arnold Schölzel
Roland R. Berger: Die stumme Katrin, 1985/94, Linolschnitt
Roland R. Berger: Die stumme Katrin, 1985/94, Linolschnitt

Von einem drohenden Weltkrieg sprach der Sozialist Friedrich Engels 1887, der 90jährige General Helmuth von Moltke warnte 1890 davor, ein künftiger europäischer Konflikt könne ein siebenjähriger oder dreißigjähriger Krieg werden, und fügte an: »Wehe dem, der zuerst die Lunte ans Pulverfaß schleudert.«

Unter den Zeitgenossen waren diese und ähnliche Vorhersagen bekannt. Worin allerdings das Pulverfaß bestand, in das der deutsche und der österreichische Kaiser 1914 allen voran die Lunte warfen, darüber herrschte wenig Klarheit. Das gilt im wesentlichen bis heute. Das gegenwärtig in der Bundesrepublik am meisten verkaufte Buch zum Ersten Weltkrieg trägt den Titel »Die Schlafwandler«, und sein Autor, der australisch-britische Historiker Christopher Clark, erklärt, Ursachenforschung interessiere ihn wenig.

Das ist nicht nur der Offenbarungseid eines Wissenschaftlers, die Frage nach dem Warum des Massenmordens von 1914 bis 1918 wird generell abgewiesen. Ein Blick auf die Vorgeschichte des August 1914 erklärt den Grund dafür: Seit Mitte der 1890er Jahre führten die europäischen Großmächte und die USA eine Vielzahl von Kriegen zur Neuaufteilung ihrer Kolonien in Asien und Afrika. Aus der Sicht der davon betroffenen Völker und ihrer Befreiungsbewegungen fand bei ihnen seit Jahrzehnten ein Weltkrieg statt, bevor ab 1914 die Großmächte aufeinander stießen. Die kolonialen Feldzüge der Europäer und Nordamerikaner wurden mit äußerster Brutalität geführt. Sie schlossen Massaker ein, die Greueltaten der SS im Zweiten Weltkrieg vorwegnahmen – so bei der militärischen Strafaktion von acht Mächten 1900 in China. Völkermord war einkalkuliert zum Beispiel bei der Niederschlagung des Herero-Aufstandes durch deutsche Truppen 1904. Und sie dienten zur Erprobung neuer Waffen, wie im Krieg Italiens gegen das Osmanische Reich 1911/12 zur Eroberung Libyens geschehen. Dort wurden erstmals Flugzeuge zum Bombardieren der Zivilbevölkerung eingesetzt.

Alle diese Kriege waren offenkundig imperialistischer Natur, dienten der Ausplünderung der Kolonien, d.h. der Gewinnung von Rohstoffen und neuer Märkte. Als der Erste Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde, war allen Beteiligten klar, um welche Ziele es ging: die Neuaufteilung der Welt.

Es waren vor allem führende Köpfe des linken Flügels der Zweiten Internationale, die das damals aussprachen. Ihre Strömung hatte sich u.a. wegen ihrer von der Hauptrichtung der Sozialdemokratie abweichenden Analyse des Kapitalismus herausgebildet. Die ersten imperialistischen Kriege spielten dabei eine wichtige Rolle: Sie belegten aus der Sicht dieser Theoretiker, daß von einem friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus keine Rede sein konnte, sondern die kapitalistische Gesellschaft in eine Phase sozialer und wirtschaftlicher Katastrophen eingetreten war und daß der Kampf gegen den Krieg aufs engste mit dem Kampf für die sozialistische Revolution verbunden war.

Zum Ersten Weltkrieg gehört diese Vorgeschichte. Die Linken konnten sich in der internationalen Sozialdemokratie, die an der Zustimmung zu »Vaterlandsverteidigung« und Kriegsfinanzierung zerbrach, nicht durchsetzen. Ein Grund, die damaligen Kontroversen und Analysen zu ignorieren, ist das nicht. Im Gegenteil: Nicht nur die Kette imperialistischer Kriege, mit denen die mit weitem Abstand führende Militärmacht USA und ihre Verbündeten, einschließlich der Bundesrepublik, seit dem Untergang der Sowjetunion 1991 die Welt überzogen haben, ist ein Beleg dafür, daß bei allem Wandel der Verhältnisse Entscheidendes gleichblieb.

Deshalb wurde diese Beilage als Handreichung mit noch immer aktuellen Texten von Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg und Richard Sorge konzipiert. Diese Untersuchungen und die gesamte sozialistische Literatur zu dem Thema werden vom offiziellen Gedenken ignoriert. Dort ist, wie von Sigmar Gabriel am 14. April auf einer Veranstaltung der SPD zum Ersten Weltkrieg, zu hören: Rußland sei offenbar bereit, »Panzer über europäische Grenzen rollen zu lassen«. Das war im August 1914 kaum anders gesagt worden, hat sich im Verlauf von 100 Jahren nicht geändert.

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