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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 01.11.2014

Auflösung von Nebelwelten

Carolin Amlinger hat ein lesenswertes Buch über zentrale Positionen zur Ideologietheorie vorgelegt
Von Werner Seppmann
Ideologie bietet geistige und emotionale Bindung: »Heilige Woche
Ideologie bietet geistige und emotionale Bindung: »Heilige Woche« in Sevilla 2012

Die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Bewußtseinsformen ist Kernaufgabe einer kritischen Sozialtheorie. Ihr Hauptaugenmerk gilt der Frage, weshalb es dem Kapitalismus als System der Krisen und zivilisatorischen Widersprüche immer wieder gelingt, die Menschen geistig und emotional an sich zu binden. Durch die Destruktionswirkung des postmodernen Denkens wurde dieses Problembewußtsein aber geradezu tabuisiert. Unterstellt wurde, dass die soziale Welt weitgehend »virtuell« (Jean Baudrillard), das Mediale und das Tatsächliche deckungsgleich geworden seien. Daraus folgte der Schluss, dass zwischen Realität und Täuschung nicht mehr unterschieden werden könne. So war auch die Frage nach einer adäquaten Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge, oder philosophisch formuliert, die Frage nach der Wahrheit, vom Tisch.

Beliebigkeit

Die Repräsentanten der herrschenden Apparate hörten das gern: Wenn objektive Erkenntnis nicht mehr möglich ist, dann verliert sich jede Beschäftigung mit den gegenwärtigen Herrschaftsformen (in deren Kontext ideologische Vermittlungsprozesse eine wichtige Rolle spielen) in den Nebelwelten der Beliebigkeit. Letztlich wird so jeder Veränderungsperspektive der Boden entzogen.

Mit produktiven Konsequenzen stellt dagegen Carolin Amlinger in »Die verkehrte Wahrheit. Zum Verhältnis von Ideologie und Wahrheit bei Marx/Engels, Lukács, Adorno/Horkheimer, Althusser und Zizek« die Wahrheitsproblematik in den Mittelpunkt. Sie geht davon aus, dass es ohne die Frage nach der »Erkennbarkeit der Welt« müßig sei, nach einem verzerrenden Charakter von Bewusstseinsformen zu fragen.

Amlingers sorgfältige Lektüre einiger zentraler Positionen zur Ideologietheorie kommt zu dem Ergebnis, dass nicht wenige der als kritisch, gar als »subversiv« gehandelten »Ansätze« ihr Versprechen nicht einlösen. Deutlich wird, dass es mit dem oft erhobenen Anspruch nicht weit her ist, »kritisch« die Ideologietheorie von Marx und Engels zu überbieten.

Deren Darstellung durch Amlinger gehört zu einer der zuverlässigsten in der heutigen Literatur. Ähnlich steht es auch um ihre Beschäftigung mit den ideologietheoretischen Passagen in Georg Lukács' epochalem Werk »Geschichte und Klassenbewusstsein« und der Adaption zentraler Elemente seiner Verdinglichungstheorie in der »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor Adorno. Deren entscheidende Differenz zu Lukács arbeitet Amlinger heraus: Während dessen Werk eine die konkrete Gegenwartsanalyse fundierende Basis ist, fungiert bei den Begründern der Frankfurter Schule das Verdinglichungstheorem nur als Baustein zu einer resignativen Einstellung zur Geschichte. Gesellschaftsentwicklung wird auf den Aspekt des zivilisatorischen Verfalls und permanenten Rückschritts reduziert, ideologische Unterwerfung als weitgehend unüberwindbares Vergesellschaftungsphänomen dargestellt.

Widerstand undenkbar

Auch bei der Beschäftigung mit den Positionen von Louis Althusser und Slavoj Zizek begnügt sich die Autorin nicht mit deren Selbstzurechnungen, sondern fragt, ob sie ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Ihr Ergebnis dürfte für so manchen unkritischen Leser beider Ideologietheoretiker ernüchternd sein. Bei Althusser wird deutlich, dass er seine neomechanistische Grundpostion auch in diesem Kontext nicht überwindet. Gerade dann, wenn er vermeintlich die »Selbsttätigkeit« der gesellschaftlichen Subjekte thematisiert, unterstreicht er, dass dies nur eine Scheinaktivität sei. Denn nach seiner Auffassung vollzieht das handelnde Subjekt nur Vorgegebenes: Den Menschen drängen sich Ideologien »vor allem als Strukturen auf, ohne durch ihr Bewusstsein hindurchzugehen«. Sie werden also nicht ausgewählt und »bearbeitet«, sondern nur »erlitten«. Der bei Marx wesentliche Aspekt einer realen (wenn auch relativen) Selbsttätigkeit der Subjekte (zentrales Thema in den »Thesen über Feuerbach«) fällt dem Schematismus Althussers zum Opfer. Ideologie erscheint bei ihm, so fasst Amlinger ihre Analyse zusammen, »als selbstreferentielle, wahrheitszersetzende, geschlossene Einheit, die kein Außen und keine Grenze mehr kennt - sie ist letztlich das Perpetuum mobile kapitalistischer Vergesellschaftung.« Widerständiges Verhalten ist im Rahmen dieses Konstrukts nicht mehr denkbar.

Zizek bewegt sich näher an den veränderten ideologischen, durch Fragmentarisierung und Identifikation gekennzeichneten Vermittlungsprozessen im heutigen Spätkapitalismus und hält auch an der Wahrheitskategorie fest. Diese hat bei ihm aber einen gleichsam theologischen Charakter: Wenn Zizek vom »Wahrheitsereignis« spricht, darauf weist die Autorin hin, bringt er auch eine »Erlösung durch Revolution« ins Spiel. Unrecht hat Amlinger nicht, wenn sie dieses Denkmuster als »religiösen Messianismus« klassifiziert.

Das bemerkenswerte Buch, das zur Lektüre jedem empfohlen ist, der es mit seinem kritischen Selbstanspruch ernst meint, schließt mit einem Kapitel über den heutigen Gebrauchswert der diskutierten Positionen ab. Das ist für jede Gesellschaftstheorie eine Stunde der Bewährung.

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