Deutsch-Europa über alles
Von Arnold SchölzelEin Jahr lang schon begeistert sich das deutsche Bürgerfeuilleton an Christopher Clarkes dickleibiger Unschuldsvermutung »Die Schlafwandler«: Deutschland hat mit dem Ersten Weltkrieg fast nichts zu tun. Der in Oxford lehrende Australier begrenzt seine Inbrunst fürs deutsche Wesen aber auf einen kurzen Zeitabschnitt. Sein in Cambridge wirkender irischer Kollege Brendan Simms ist da von anderem Kaliber. In seinem 900-Seiten-Wälzer »Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas. 1453 bis heute« schildert er die Verfasstheit der Deutschen als weitgehend ohnmächtig über Jahrhunderte hinweg und erklärt das Heilige Römische Reich deutscher Nation zum Modell für eine deutsche EU. Ersteres ist nicht neu. Nicht nur dem Kaiser, dem Führer und heutigen Kanzlern war Deutschland stets Opfer der Geschichte oder zumindest Flüchtlings- und Sozialamt der Welt. Deutschland als bloßes Objekt anderer Mächte, das sich immer nur gewehrt hat und manchmal etwas übers Ziel hinauschoss, war und ist eine fixe Idee der hiesigen Nationalgeschichtsschreibung. Marx, Engels, Heinrich Heine, Franz Mehring, von den Nazis ins Exil vertriebene Intellektuelle und DDR-Historiker sahen das anders, aber die erwähnt einer wie Simms nicht. DDR-Geschichtsforschung - gab's die? Dem Apparat seines Werkes nach (170 Seiten) nicht. Seine Ausführungen zur Teilung Deutschlands nach 1945 und zur Geschichte der beiden deutschen Staaten gehören entsprechend zu den albernsten Teilen seiner Zusammentragung, soweit geballter Unfug lustig sein kann. Ein Beispiel: »Gleich bei Kriegsende hatte er (Stalin) seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, sich mit dem deutschen Nationalismus zu arrangieren, indem er die Übergabe Stettins an Polen solange wie möglich hinauszögerte.« Die Übergabe der Stadt wurde im Sommer 1945 vollzogen. Den Satz schreibt ein »Wissenschaftler«, der in Großbritannien arbeitet. Dessen Premier Winston Churchill erhielt am 22. Mai 1945 den ersten Plan für die »Operation Unthinkable« - für einen raschen Überfall auf die Sowjetunion mit Hilfe deutscher Kontingente.
So ähnlich geht es quer durch 560 Jahre europäischer Geschichte. Nach Simms hatte sie einen Drehzapfen: Alle wollten Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches und deutscher Kaiser werden - der Sultan und die Bourbonen, die Habsburger sowieso, Napoleon und viele andere. Simms nennt jede Kollision auf deutschem Boden »Geopolitik«, ohne sie zu definieren, und erzählt Historie furztrocken empiristisch als Abfolge von Haupt- und Staatsaktionen. Wer mit wem gegen wen, ohne gesellschaftlichen Hintergrund, ohne Feudalismus und Bürgertum. Kolonialismus - für Westeuropa einschließlich Rassismus über Jahrhunderte das Zentrum aller Politik - kommt als eine Art Spieleinsatz im Kampf um Deutschland vor. Das Heilige Römische Reich ist nach ihm, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt, »in seinen vielen guten Augenblicken ein vergleichsweise angenehmer Ort« gewesen: »Es zog rechtliche Konfliktlösungen militärischen vor, und es war ein Vorreiter auf dem Gebiet der friedlichen religiösen und politischen Koexistenz, die heutige >Konkordanzmodelle< der Machtteilung in gespaltenen Gesellschaften, wie etwa in Nordirland, vorwegnahm. Seine Einwohner - und nachfolgende Generationen überall auf der Welt - profitierten von der einzigartigen kulturellen Vielfalt des Reiches und des Deutschen Bundes. Besonders deutlich kam dies in der Vorherrschaft der deutschen Musik bis mindestens in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck.« Die Bemerkung zu Nordirland ist nach einigen hundert Jahren britischer Ausrottungs- und Verdrängungspolitik von besonderem Humor, ansonsten fehlt alles, was die deutsche Geschichte im Innern bestimmte: Die deutsche frühbürgerliche Revolution und ihre Niederschlagung kommt nicht vor, der Aufstieg Preußens wird bei Simms wieder zur Hohenzollernlegende für schlichte Gemüter und fürs heutige Berlin hält er als Höhepunkt eine »Ruck«-Ansprache bereit: »Wie erledigen wir mit einem Streich die deutsche und die europäische Frage?« Die Antwort: »Was wir (...) brauchen, ist ein kurzes kollektives Feuer, in dem (...) neue Institutionen und letztlich neue Identitäten gebrannt werden.« Wer so glüht, der darf mit Wolfgang Schäuble aufs Podium wie jüngst in Berlin und kommt demnächst mit einem weiteren Buchtitel auf deutsch in die Läden. Denn Simms ist kein Historiker, sondern ein geistiger Führer der Führer.
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