Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: 25 Jahre Anschluss, Beilage der jW vom 02.10.2015

Der Musterfall

Enteignung, Zerstörung und Krieg: Wie die Bundesrepublik seit 1990 zur EU-Vormacht wurde
Von Arnold Schölzel
Der Bundesadler, das deutsche Nationalwappen, als Metallskulptur
Der Bundesadler, das deutsche Nationalwappen, als Metallskulptur des Berliner Künstlers Herbert Fell 2005 im »Skulpturenpark Deutsche Einheit« bei Henneberg in Thüringen

Der 25. Jahrestag des DDR-Anschlusses an die BRD steht im Zeichen eines triumphalen Aufstiegs der erweiterten Bundesrepublik zur Führungsmacht der EU. Politisch und militärisch ist sie weit über Europa hinaus zunehmend neben anderen Großmächten aktiv. Aus der noch nicht beendeten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 ging das Land enorm gestärkt hervor, ein Ziel, das Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von deren Beginn an formuliert hat. Die EU-Politik Berlins ist der konzentrierte Ausdruck von Interessen der Finanzindustrie und insbesondere der deutschen Exportwirtschaft, von deren faktischer Diktatur. 2015 wurde das am Umgang mit der gewählten Regierung Griechenlands für jeden nacherlebbar – bis hin zu deren Kapitulation und Übergabe der Souveränität. Die Ära der Postdemokratie wurde bereits 2011 eröffnet, als der damalige griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou ein Referendum in Griechenland über die EU-Auflagen erwog und innerhalb weniger Tage zum Rücktritt gezwungen wurde. Die griechische Volksabstimmung vom 5. Juli 2015 galt den »Institutionen« bereits als fast nebensächlich. Der italienische Marxist und Wirtschaftswissenschaftler Vladimiro Giacché legt in seinem Beitrag zu dieser Beilage dar, wie das Modell der DDR-Einverleibung in den 90er Jahren heute Pate bei den Diktaten aus der Feder Berlins und Brüssels gegenüber den sogenannten EU-Krisenstaaten steht. Das Muster ist älter. Blaupausen für ein Europa formal gleichberechtigter Staaten bei tatsächlicher deutscher Hegemonie finden sich bereits in der Frühzeit des deutschen Imperialismus vor über 100 Jahren. Die Versuche, das zu verwirklichen, aber auch der Widerstand, das zu verhindern, bestimmten zu einem großen Teil die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dem Kontinent. Nun scheint die deutsche Forderung nach einem »Platz an der Sonne« erfüllt. Nicht ein einzelnes Land wurde wirtschaftlich und politisch in die Knie gezwungen. Vielmehr sind die osteuropäischen EU-Staaten eine Art deutscher Hinterhof, Italien oder Frankreich fallen weit hinter die deutsche Vormacht zurück.

Diese Situation lieferte den Anstoß für diese Beilage. Sie enthält Sichtweisen aus anderen europäischen Ländern auf den DDR-Anschluss und seine Folgen bis heute. Produziert wurde sie von jW gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Tageszeitungen Arbejderen (Kopenhagen), Morning Star (London) und der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek (Luxemburg) im Rahmen unserer Medienkooperation. Hinzugekommen ist ein Beitrag von der belgischen digitalen Tageszeitung Solidaire sowie der erwähnte von Vladimiro Giacché. Der Jurist und Sozialwissenschaftler Ekkehard Lieberam untersucht, welche Lehren für die Sozialismustheorie aus dem Aufbau, dem 40jährigen Bestehen und dem Untergang der DDR zu ziehen sind.

Das Ende des ostdeutschen Staates war ökonomisch gesehen die »größte Enteignung eines Volkes«, wie es der kürzlich verstorbene SPD-Politiker Egon Bahr einmal formulierte. Es genügen einige Ziffern, um das zu illustrieren. Sie werden bei keiner offiziellen Feier des DDR-Anschlusses  genannt, obwohl sich mit ihnen sehr viel aus der Geschichte der vergangenen 25 Jahre erklären lässt: Nach der Privatisierung der DDR-Industrie waren etwa 95 Prozent des ostdeutschen Wirtschaftskapitals in westdeutscher oder in ausländischer Hand, fünf Prozent blieben bei Einheimischen. Dieses »Modell« wird sich in kaum einem anderen Land so durchsetzen lassen, die verheerenden Folgen – Massenarbeitslosigkeit, Auswanderung, Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, Verschlechterung der öffentlichen Daseinsvorsorge von Eisenbahn und Nahverkehr bis hin zu Gesundheits- und Bildungssystem – sind EU-weit die gleichen.

In der Bundesrepublik verlief dieser Prozess bislang ohne einen Widerstand, der die Herrschenden in größerem Maß beeindruckt hätte. Ein Grund dafür ist die Rolle, welche die frühere PDS, die 2007 in der Partei Die Linke aufging, gespielt hat. Sie umschrieb der scheidende Fraktionsvorsitzende dieser Partei, Gregor Gysi, in einem Interview, das am 30. September 2015 in deutschen Zeitungen erschien, folgendermaßen: »Ich bin stolz auf meinen Beitrag, große Teile ostdeutscher Eliten mit in die Einheit geführt zu haben«. Das steht für die Erfüllung einer Funktion. Durch sie war es möglich, die DDR-Abwicklung einschließlich Kultur- und Wissenschaftszerstörung relativ geräuschlos vor sich gehen zu lassen. Die DDR-Zerstörung war ein Beispielfall des seit 1990/91 entfesselten Regimes der Reichen zur Herstellung von Armut und Barbarei weltweit. Krieg, Vertreibung und Flucht sind einkalkulierte Bestandteile dieser »Ordnung«.

In vielen Ländern Europas ist der Widerstand gegen diese Diktatur des Wahnwitzes, die menschheitsbedrohend ist, weiter vorangeschritten als in der Bundesrepublik, dem Musterland von Konterrevolution und Restauration. Auch davon berichten die Beiträge dieser Beilage.

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