Theater und Engagement
Von Thomas WagnerIn den 1960er Jahren erfuhr die Institution des Theaters in der Bundesrepublik einen Politisierungsschub. Man interessierte sich nicht mehr nur für allgemeine humane Werte, sondern für reale Machtverhältnisse. Um auf tagesaktuelle Ereignisse zu reagieren und das Klasseninteresse der abhängig Beschäftigten sichtbar zu machen, griffen die Theatermacher auf Methoden wissenschaftlicher Recherche zurück und experimentierten mit verschiedenen Darstellungsformen. Bühnenarbeiter, Schauspielerinnen und Regisseure erprobten neue demokratische Formen der Entscheidungsfindung.
In Erasmus Schöfers Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« über den politischen Aufbruch, die Kämpfe und Niederlagen der Generation der 68er, bilden diese Veränderungen im Theater einen wichtigen Erzählstrang. Zur selben Zeit wurde das Theater in der DDR – wie andere Bereiche der Kultur auch – als selbstverständlicher Bestandteil der sozialistischen Aufbauarbeit betrachtet.
Nach ihrer Einverleibung durch das kapitalistische Westdeutschland schwand das Interesse an politisch engagierter Kunst. Das Theater schien auf seine überwunden geglaubte Rolle als bloßes Unterhaltungsprogramm für Bildungsbürger zurückzufallen.
Die Zeit der engagierten Literatur sei vorbei, hieß es nun im bürgerlichen Feuilleton. Dass es auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine ganze Menge fortschrittlicher Autorinnen und Autoren zu entdecken gab, zeigte die vom 18.1. 2008 bis zum 3.7. 2008 im Feuilleton der jungen Welt publizierte Serie »Literatur und Engagement«. Ihr folgten eine Reihe von Wochenendgesprächen mit Autorinnen und Autoren, die 2010 in dem Buch »Die Einmischer« zusammengefasst wurden. Die von dem Politologen Ingar Solty und dem Schriftsteller Enno Stahl initiierte Konferenz »Richtige Literatur im Falschen?«, die am 17. und 18. April 2015 mit großer überregionaler Medienresonanz im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus stattfand, knüpfte nicht zuletzt an die im Rahmen dieser Zeitung gemachten Vorarbeiten an.
Zurück zum Theater. Seinen Roman »Die vierte Wand« (2015) lässt Sorj Chalandons um eine Inszenierung von Jean Anouilhs »Antigone« in Beirut mit Angehörigen der verschiedenen Bürgerkriegsparteien des Libanon 1982 kreisen. Und in der anhaltenden Krise des Kapitalismus wird die Frage nach der politischen Aufgabe der Bühnenkunst auch von Theoretikern wieder vermehrt gestellt. Institutionen müssen »ständig daraufhin überprüft werden, ob sie noch die richtige Antwort auf die Probleme geben oder ob sie sich ganz einfach verselbständigt haben und nur noch Antworten auf Fragen der Vergangenheit darstellen«, schreibt der Publizist Mark Terkessidis in seinem 2010 veröffentlichten Buch »Interkultur«.
Im Schwerpunkt dieser Literaturbeilage steht die Institution »Theater« auf dem Prüfstand. Kai Köhler setzt sich mit der Arbeit des Theaterwissenschaftlers Bernd Stegemann auseinander. Mit Kathrin Rögglas Überlegungen zum kritischen Gegenwartstheater befasst sich Ingar Solty. Sabine Kebir stellt Werner Wüthrichs Studien zu Bertolt Brechts Theaterarbeit in der Schweiz vor. Außerdem enthält diese Beilage ein Gespräch mit Berthold Seliger über seine Forderung, das öffentlich-rechtliche Fernsehen abzuschaffen. Natürlich gibt es wie in jeder Literaturbeilage auch diesmal wieder zahlreiche Rezensionen von Romanen und Sachbüchern.
Weiterführende Lektüre
Serie »Literatur und Engagement«
https://www.jungewelt.de/bibliothek/serie/491
Sorj Chalandon: Die vierte Wand. DTV, München 2015, 320 Seiten, 15,90 Euro
Franziska Schößler: »Ein Frühling irrer Hoffnung: Erasmus Schöfers andere Theatergeschichte und ihre Kontexte«, in: Thomas Wagner (Hrsg.): Im Rücken die steinerne Last. Unternehmen Sisyfos. Die Romantetralogie von Erasmus Schöfer. Dittrich Verlag, Berlin 2012, 361 Seiten, 19,80 Euro
Mark Terkessidis: Interkultur. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 220 Seiten, 13 Euro
Thomas Wagner: Die Einmischer. Wie sich Schriftsteller heute engagieren. Argument Verlag, Hamburg 2011, 216 Seiten, 15,90 Euro
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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