Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. Dezember 2024, Nr. 298
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: Afrika, Beilage der jW vom 02.12.2015

Nackt im Wind

Rekolonisierung Afrikas: Wer Fluchtgründe »vor Ort« beseitigen will, darf die Ursachen für Hunger, Krieg und Ausbeutung nicht verschweigen
Von Gerd Schumann
RTX1N0RY.jpg
Gerettet! Gerettet? Einer von 300 Flüchtlingen, deren Boote am 4. August im Sturm auf dem Mittelmeer kenterten, Sizilien, August 2015

Es ist angesichts der Fluchtbewegungen nach Norden wieder in Mode gekommen, von »Entwicklung vor Ort« zu reden. Die »Ursachen« dafür, dass Menschen flüchten, müssten bekämpft werden, heißt es. Sich der offen neoliberalistischen Politik eines unsäglichen »Entwicklungsministers« namens Dirk Niebel (2009–2013) noch erinnernd, mutet dieses Ansinnen geradezu zivilisatorisch an. Allerdings kann es nicht ernst gemeint sein.

Jegliches Nachdenken über Fluchtgründe führt zum leicht erkennbaren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Das Elend in den »Herkunftsländern« steht in enger Beziehung zu den Migrationsströmen. Wer folglich den Fluchtgründen auf die Spur kommen will, ist gezwungen, sich mit deren Verursachern auseinandersetzen, was indes nicht in deren Interesse liegt: Um zu wirken, muss sich die Bekämpfung von Krieg, Armut, Hunger, Epidemien gegen Ausplünderung und Abhängigkeit richten, also gegen die Profiteure und deren System.

Der gewaltsame Tod ist ein Gefährte des Kapitals, auch auf Fluchtwegen. Dem Kapital sind die Leichen, die im Mittelmeer schwimmen, gleichgültig. Manchmal jedoch, wenn Krokodilstränen angebracht scheinen, lässt es trauern. Dann erheben sich Abgeordnete in den Quasselbuden zu Strasbourg und anderswo aus ihren Sesseln, um der Hunderten oder Tausenden zwischen Libyen und Lampedusa ertrunkenen Afrikaner zu gedenken. Einige Tagesordnungspunkte später dann bauen die Nachfolger früherer Kolonialpolitiker ihre »Festung Europa« aus und beschließen, kritische Stimmen ignorierend, den Einsatz von Militär zu Wasser und zu – fremdem – Land. Das hieß ehemals »Kolonie« und wird heute als »unabhängig« bezeichnet.

Wie jüngst, als sich die Crème de la Crème des europäischen Politestablishments nach Malta begab, um 35 Vertretern afrikanischer Länder Glasperlen im Wert von 1,8 Milliarden Euro zu versprechen, würden sie sich willfährig verhalten und einerseits ihre Flüchtlinge klaglos zurücknehmen, andererseits »Transitzentren an den Migrationsrouten« einrichten. Wie zum Beispiel in Mali, wo derzeit mit Franz Xaver Pfrengle der erste deutsche General seit Hitlers »Wüstenfuchs« Rommel agiert – zuständig für 600 Militärausbilder.

Die Kriege, die in den vergangenen Jahren unter maßgeblicher Beteiligung oder auch Führung Frankreichs in Afrika stattfinden, erinnern fatal an die Kolo­nialzeit. Auf waffentechnologisch höherem Niveau als vor hundert Jahren natürlich, doch mit vergleichbarer Selbstherrlichkeit entsenden die reichen Mächte des Nordens Soldaten – und in deren Gefolge Spezialisten für Verwaltung und für das Training von staatlichen Repressionsorganen wie Armee und Polizei. Das läuft zwar nicht unbedingt reibungslos – wie nicht nur das libysche Beispiel mit in seinen grausamen Konsequenzen zeigt. Aber es erfüllt letztlich doch seinen Zweck: Die Wiederherstellung der gefährdeten Bindung an die alte Kolonialmacht – in Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste), im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali. Und demnächst in Nigeria, Südsudan, Tunesien?

Flüchtende Flüchtlinge

Die Massenfluchten zu Zeiten der Globalisierung führen immer häufiger von einem Krieg in den nächsten. Versuchten in der Vergangenheit viele Somalis, über den Golf von Aden auf die Arabische Halbinsel zu gelangen, machten sich seit März 2015 Zehntausende zurück auf den Weg nach Afrika – die meisten von ihnen über die Straße von Aden mit dem Ziel Somalia, einem »gescheiterten Staat«, eine der unsichersten Regionen der Welt.

Von Nord nach Süd: Im Krieg Saudi-Arabiens und dessen Bündnispartner gegen Jemen kommen auch deutsche Waffen zum Einsatz – sie wurden und werden in die arabischen Scheichtümer exportiert. Demnächst sollen 70 »Leopard«-Panzer in das Sultanat Oman geliefert werden. Das Land, wie seine Nachbarn eine gefürchtete Diktatur – in diesem Fall eine absolutistische Monarchie – habe den Münchner Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW) sowie einen türkischen Konkurrenten »eingeladen«, so der Spiegel (47/2015), »sich um den Auftrag zu bewerben«. Im nächsten Jahr, voraussichtlich ab April, soll am Horn von Afrika erstmals ein deutsches U-Boot, wahrscheinlich des Typs U35, eingesetzt werden. Dieses werde, so der Spiegel, »tropentauglich« sein und diene dazu, »Piraten zu bekämpfen«. Die Kanzlerin schweigt zu allem.

Zum Beispiel Südafrika

60 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht. »Die überwältigende Mehrheit, 86 Prozent der Vertriebenen, lebt heute in Entwicklungsländern, die am wenigsten in der Lage sind, sie zu unterstützen«, hielt die New York Times kürzlich fest. Allein Südafrika beherbergt mehr Asylbewerber als ganz Europa. Drei bis sieben Millionen Menschen haben sich laut Schätzungen dort als Schutzsuchende registrieren lassen. Genaue Zahlen existieren nicht, da das Erfassungssystem zusammengebrochen ist.

Denis Goldberg, Freiheitskämpfer und Gefährte von Nelson Mandela, meint: »Die Flüchtlinge kommen aus vielen afrikanischen Ländern. Sie sind größtenteils nicht dokumentiert, doch wird geschätzt, dass die Zahl bei acht bis zehn Prozent der Bevölkerung liegt.« Übertragen würde das bedeuten, so der ANC-Veteran, dass Deutschland zwischen sechs und acht Millionen Flüchtlinge aufnehmen würde.

Bilder vom Hunger

Seit dem Ende des Kolonialsystems, von dem 1945 noch zwei Drittel der Weltbevölkerung unterjocht wurden, beruhigt der Norden mit Spenden und lächerlichen Beträgen sein Gewissen vor allem dann, wenn die Bilder von Hungernden und Armen, von Ebolaepidemien und Unruhen sowie Massenfluchten in die Wohnzimmer der europäischen Nationen gelangen. Insekten im Kindergesicht mit den großen Augen, die keine Tränen mehr haben. Wiederkehrende Szenarien über Jahrzehnte.

Fast eine Milliarde der sieben Milliarden Menschen, die den Planeten bevölkern, leidet dauerhaft Hunger. Millionen sterben jedes Jahr durch Hunger und Unterernährung, darunter alle paar Sekunden ein Kind unter fünf Jahren, so der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. »Etwa ein Drittel der Kinder werden in den 50 ärmsten Ländern der Welt geboren. Dort verursacht der Eisenmangel irreparable Schäden. Sehr viele Opfer bleiben ihr Leben lang geistig behindert. Alle vier Minuten verliert ein Mensch sein Augenlicht, er wird blind – meist durch Fehlernährung.«

Subventionierter Markt

Unterdessen wird auf dem Markt in der malischen Hauptstadt Importzucker aus Guatemala verkauft, Hühnerfüße oder Milchprodukte werden offeriert, »Abfallprodukte aus hochsubventionierten deutschen Großbetrieben, die in Bamako zu Preisen angeboten werden, mit denen kein einheimischer Bauer konkurrieren kann. Die Baumwolle kommt oft aus den USA, wo die Regierung ihre Farmer jedes Jahr mit rund zwei Milliarden Dollar unterstützt.« (Der Spiegel, 48/2015)

Nie in der Geschichte der Menschheit gab es mehr Reichtum. Und mehr Reiche. Die 500 vermögendsten Personen der Welt besitzen mehr als die 50 ärmsten Länder. Die technologische Entwicklung rast. Die Weltlandwirtschaft wäre dazu in der Lage, zwölf Milliarden Menschen zu ernähren. Das geschieht nicht, weil die Ausplünderung des Südens durch den Kapitalismus, der im Norden seinen höchsten Entwicklungsstand erreicht hat, anhält. Wie zu Kaisers Zeiten werden die meisten Länder Afrikas als Herrschaftsgebiete betrachtet.

Tankstellen des Elends

Während der weltweite Klimaschock infolge des CO2-Irrsinns zugunsten der Profite von VW und der Energiekonzerne für eine Versteppung in der Sahelzone sorgt und nie gekannte Starkregen Flüchtlingslager am Rand der Sahara überschwemmen lässt, boomt das Geschäft mit Grund und Boden. Konzerne und Banken erwerben riesige Landflächen südlich der Wüste zu Spottpreisen und produzieren auf Monokulturen Lebensmittel. Aus denen wird Sprit hergestellt, der dann in die Molochstädte Nigerias, in deren Slums sich die enteigneten Bauern vom Land die Pest an den Hals holen, verkauft wird. Nigeria, der größte Öllieferant des Kontinents, muss sein Benzin importieren, weil es nicht dazu in der Lage ist, das »schwarze Gold« zu raffinieren. Das erledigen in Übersee dann Texaco, Shell, BP oder Exxon Mobil. Derweil landet das »grüne Gold« aus verbrannten Lebensmitteln in Kanistern abgefüllt auf den Bauernmärkten und in den Tankstellen des Elends.

Sklavenarbeit

Die Fischer an der afrikanischen Westcoast fahren immer weiter hinaus, um überhaupt noch etwas zu fangen. Die Hochseeflotten der großen Mächte im Norden lassen wenig übrig. Coltan im Kongo wird von Kindern abgebaut. Die Kriege um den wertvollen Rohstoff produzierten um die Jahrtausendwende herum die größten Flüchtlingsbewegungen innerhalb Afrikas seit Jahrzehnten. Uran im Niger für die Atomkraftwerke Frankreichs verstrahlt ganze Arbeitergenerationen. Derweil schlachten Menschen auf den Technikmüllkippen an der afrikanischen Westküste die – blitzartig veralteten – Geräte der vorigen IT-Generation aus. Mensch-Maschine-Sklavenarbeit.

Der wiederauferstandene Kolonialismus, der vor nunmehr 60 Jahren besiegt schien, erzeugt wie eh und je Hunger und Elend. »Hier fordern Sünden unserer Ahnen / Unsere Stumpfheit ihr Tribut / Keine Gefangenen die Parole / Hier wird bezahlt mit Fleisch und Blut«, sangen vor sage und schreibe drei Jahrzehnten spendensammelnde, mahnende Rockmusiker auf der Kölner Domplatte: »Nur ein paar Breitengrade südlich / Und dann nach Osten weint ein Kind / Doch ehe dieses Lied hier ausklingt / Verhungert es stirbt nackt im Wind.«

Nackt im Wind – die Geißel unserer Zeit bleiben der Imperialismus und sein Zwillingsbruder, der Kolonialismus, sowie deren Spielarten in einer globalisierten Welt. Der Malta-Gipfel, zu dem die Verlierer aus Afrika von der EU Mitte November zitiert wurden, wirft den ärmsten der Armen nicht einmal Brotkrumen zu, sondern sorgt für Arbeitsplätze bei der gewaltsamen »Fluchtverhinderung«. Der Tod ist ein Gefährte des Kapitals.

Bundesrepublik Nigeria, Westafrika

• 178,5 Millionen Einwohner

• 1861 Britische Kolonie

• 1960 Unabhängigkeit

Gerd Schumann lebt als freier Autor in Berlin

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Muttermale der alten Gesellschaft. Reiter vor Stromtrassen, die ...
    18.08.2015

    Keine Klone

    Aufstrebende Wirtschaftsmächte bedrohen die Hegemonie der entwickelten Länder des Westens. Sie folgen dabei ebenfalls kapitalistischen Prinzipien, ohne aber die Gesellschaften in den Mutterländern des Kapitals zu kopieren. Das Beispiel Südafrika
  • »Euer Geist wird immer in unseren Herzen sein«: Gedenken von Ber...
    14.08.2015

    Ignorierte Armut

    Südafrika: Nach dem Massaker von Marikana blieben die Familien der getöteten Bergarbeiter mittellos zurück. Jetzt verklagen sie die Polizei

Regio:

Mehr aus: Ausland