»Familie? Es gibt jetzt Wichtigeres«
Interview: Christof Meueler/Alexander ReichHerr Brückner, Sie haben einen Dokumentarfilm über Ihren Vater gedreht, der seit Anfang des Monats in den Kinos läuft und sich im Titel auf dessen letztes Buch »Das Abseits als sicherer Ort« bezieht. Dieses Buch handelt von seiner Jugendzeit unter den Nazis. Ist es Ihnen gewidmet?
Simon Brückner: Es ist seinen Kindern gewidmet. Ich bin nur eines davon. Als er das Buch geschrieben hat, war ich noch klein, ungefähr zwei, drei Jahre alt.
Bei Rudi Dutschke auf dem Arm, heißt es im Film.
Brückner: Das muss wohl so gewesen. Meine Mutter hat das erzählt. Dutschke sei sehr kinderfreundlich gewesen und hätte mich rumgetragen. Ich hätte aber sehr geweint und Angst vor ihm gehabt. Das sind so Anekdoten.
Sie selbst treten in dem Film auf, als wüssten Sie sehr wenig über Ihren Vater.
Brückner: Zum einen wollte ich eine Situation erzeugen, in der man etwas sehen konnte. Die Protagonisten, die Peter nahegestanden haben, sollten entscheiden, was sie mir von meinem Vater mit auf den Weg geben. Meine Vorstellung war, dass meine Anwesenheit in ihnen etwas auslöst, und das wollte ich beobachten. Das hat immer sowohl mit mir als auch mit Peter zu tun.
In den Szenen mit Ihrer Mutter wirkt es, als hätten Sie beide nie über ihn geredet.
Brückner: Natürlich hatten wir schon über ihn geredet, aber noch nicht so. Eine Filmsituation erzeugt eine andere Spannung. Man spricht Sachen direkter an, ich sage immer: Man tritt vor das Orakel. Da ist schon die Frage: Was ist das Wesentliche gewesen?
In der Wohnung filmen Sie ein Plakat ab, das zu einer Veranstaltung einlädt ...
Brückner: Einem Symposium zum Verhältnis von Geschichte und Lebensgeschichte.
Dieses Symposium hat einen Monat nach seinem Tod stattgefunden. War das akademische Trauerarbeit?
Axel Oestmann: Man darf nicht vergessen: Peter Brückner war, als er starb, auf dem besten Wege, öffentlich ein toter Hund zu sein. Die Kampagne gegen ihn hatte das Ziel, ihn als öffentliche Person zu vernichten. Das war weitgehend gelungen. 1997 machte ich als freier Autor für den Deutschlandfunk ein Feature über Probleme mit RAF-Sympathisanten in den 70ern und frühen 80er Jahren, das wurde vom Programmdirektor gekippt, und ich kriegte ein Publikationsverbot. Die Thematik, mit der sich Brückner beschäftigt hatte, war weiterhin virulent. Für diesen Programmdirektor war Brückner immer noch der Repräsentant des Bösen, ein Verführer der Massen. Als Brückner Ende der 70er an der Universität Hannover Hausverbot bekam, wurde das damit begründet, er könne mit seinen Auffassungen Studenten, wörtlich: »anstecken«. In dieser Atmosphäre hatte die unorganisierte universitäre Linke nur die Möglichkeit, durch solche Konferenzen zu antworten. Es kamen Leute, aber der öffentliche Bann ist aufrechterhalten geblieben.
Wie muss man sich ein Studium bei Brückner vorstellen?
Oestmann: Man muss sich dieses Institut wirklich offen vorstellen. Da gingen auch Arbeiter hin, Lehrlinge. Manche haben da geschlafen, wenn sie keine Wohnung hatten. Das war ein geöffneter Raum. Nach Alexander Mitscherlich: Der denkende Aufstand muss die Universität überschreiten. Was heißt das praktisch? Aufmachen für alle. Diese Idee hatte Brückner schon, als er nach dem Krieg Studentenvertreter in Leipzig war.
Ich bin da hingekommen, hatte noch kein Abitur, war aber schon Tutor bei Oskar Negt. Es ging darum, was einer kann, wie einer sich beteiligt an Diskussionen, politischen Aktivitäten – so gehörte man in diesen Korpus. Das ging weit über den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, jW) hinaus und war ein Stück freie Republik für eine kurze Zeit. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber es war großartig.
Warum ist Brückner, als 1981 die zweite Suspendierung aufgehoben wurde, nicht auf seinen Lehrstuhl zurückgekehrt?
Oestmann: Er hat sein Leben, was seinen Körper anging, optimistisch gelebt. Das gehört auch zu der Zeit. Man unterschätzt das heute immer. Wenn du damals das Wort Leben benutzt hast, hat das nicht bedeutet: Wir gehen auf den Tempelhof und pflanzen Kräuter. Es war eine völlig andere, hedonistischere, urbane Vorstellung von einem Leben auf der Basis des historisch entwickelten Reichtums. Und nicht auf eine mögliche Mangelverwaltung hin, weil in 3.000 Jahren der Himalaja schmilzt, so realistisch und wichtig das sein mag.
Wieviel haben Sie denn von seinem Familienleben mitbekommen?
Oestmann: Alles. Ich meine: Es gab kein Familienleben. Als wir ihn kennenlernten, war er geschieden von Erika Brückner, später Psychologin am Planck-Institut für Bildungsforschung. Die vier Kinder der beiden kamen mal zu Besuch, aber er war absolut kein Familienmensch. Was eine Bindung bedeutet, hängt von den Personen ab, die sie eingehen, und nicht von irgendwelchen äußeren Prinzipien oder Gesetzmäßigkeiten. Diese Vorstellung hat er gelebt, sehr eigensinnig. Als er dann Barbara Sichtermann kennenlernte, war das nicht einfach für sie. Für ihn auch nicht. Weil: Da war jetzt plötzlich so eine Frau in dieser Wohnung. Immer. Und die sagte auch: »Jetzt ist es neun Uhr, jetzt wollen wir mal was essen«. Er hat sein Leben mit ihr geändert. Und als Simon kam, war ganz klar, dass vieles anders sein würde.
Mit der Freiwilligkeit von Bindungen ist es bei Kindern nicht weit her. Brückners mittlerer Sohn Wolfgang, wird im Film erwähnt, ist im Heim gelandet. Wurde darüber gesprochen?
Oestmann: Ich habe ihn in dem Zusammenhang ziemlich hart kritisiert. Es gibt in der »Sozialpsychologie des Kapitalismus« als ein Gewaltphänomen in der Bundesrepublik die Kindesaussetzung, und da habe ich gesagt: Mit dem hast du nichts anderes gemacht. Das ist schlicht ein ausgesetztes Kind. Peter Brückner hat eine gewisse Härte gehabt. Er selbst hat gesagt: Ruchlosigkeit ist manchmal vonnöten.
Auf Ihre Kritik hin?
Oestmann: Nein, da hat er nach Ausreden gesucht: Ehe, Scheidung und so weiter – also ein sehr normaler Mann. Ich meine: Die Revolution macht immer irgendwo Halt, und bei ihm war das an der Stelle.
Man kann sich die Welt, in der wir lebten, auch nur zum Teil als eine Art Goldenes Zeitalter denken. Man hat da schlicht gesagt: Gut, es gibt jetzt Wichtigeres. Also wenn ich ein Kind gewesen wäre, hätte ich mich oft echt schlecht gefühlt. Simon hatte das Glück, dass er in eine etwas andere Atmosphäre hineinkam.
Brückner: Der Wolfgang ist den-letzten-beißen-die-Hunde-mäßig ein bisschen unter die Räder gekommen – der Scheidung, aber auch der politischen Situation. Meine anderen Halbgeschwister, die intensive Zeiten mit meinem Vater hatten, haben erzählt: Man hatte als Kind oft nicht den privilegiertesten Zugang zu ihm. Er hat viele Leute in seine Wohnung gebeten, und die haben dann genausoviel Aufmerksamkeit bekommen.
Wenn man sich sein Leben anguckt … Da gab es die Familie, in die er schicksalhaft hineingeboren wurde, der er ausgeliefert war – eine Erfahrung mit vielen Brüchen und Enttäuschungen. Und dann gab es später die politische Familie derjenigen, die solidarisch miteinander waren: die Antifaschisten in Zwickau. Eine starke Gegenseitigkeit, auf Augenhöhe, und dass man sich aufeinander verlassen kann – das hat er da wohl eher erfahren als in seiner Herkunftsfamilie.
Wie konnte er bis zum Abitur unter den Nazis nicht wissen, dass seine Mutter Jüdin war?
Brückner: Das hat man ihm nicht erzählt, vielleicht allein aus Sicherheitserwägungen: Den deutschen Behörden war das nicht bekannt. Als sie dann ausgewandert war, hat man ihm gesagt, sie sei verreist. Es muss für ihn sehr hart gewesen sein zu realisieren, dass die Mutter nicht wiederkommt, die älteren Halbbrüder mitgegangen sind und in was für einem Land er zurückgeblieben ist, mit seiner jüdischen Abstammung.
Die kurze Ehe, die er nach dem Krieg in Zwickau einging, war die bekannt oder hat Ihre Familienforschung das aufgedeckt?
Brückner: Barbara Sichtermann, meine Mutter, hat es erst nach seinem Tod erfahren. Erika, seine zweite Frau, wusste davon, aber schon in den 50er Jahren wollte Peter kaum noch darüber sprechen. Ich habe das Puzzle zusammengesetzt und mir Gedanken gemacht über diese abgespaltene Zeit Ende der 40er Jahre in der sowjetisch besetzten Zone. Man kann sich vorstellen, welche Hoffnungen diese Leute in die Zeit nach dem Krieg gesetzt haben, um dann zu realisieren, dass sich da wieder autoritäre Strukturen herausbilden. Die unglückliche Liebe zum Realsozialismus ist ja sehr schockartig für ihn zu Ende gegangen. Er wusste schon, wovon er sprach, wenn er parteienskeptisch war.
Er wurde von der Uni geschmissen in Zwickau?
Brückner: Sie haben sein Stipendium gestrichen, so dass er das Studium nicht fortsetzen konnte. Er wurde auch ziemlich fallengelassen von seinen Genossen, nachdem er sich etwa gegen die Zusammenlegung von SPD und KPD gewandt hatte.
Daraufhin zog er mit Erika nach Münster, wo der älteste Sohn Tobias geboren wurde. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?
Oestmann: Ein Riesenkerl, herzensguter Mensch, brillanter Mathematiker und ein politischer Idiot, wie man ihn sich lustiger kaum vorstellen kann. Er lebte in Heidelberg und wollte Nachfolger von Joscha Schmierer im KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland, jW) werden. Ein guter Typ, der mit einer gewissen Hartnäckigkeit an den falschen Vorstellungen festhielt, wegen Vorlesungsstörung zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt.
Brückner: Die politischen Streitereien zwischen Peter und Tobias sind legendär. Peter war ja ein Antiautoritärer.
Mit dem Ende der Studentenbewegung kam Brückner der Untersuchungsgegenstand abhanden, sagen Sie, Herr Oestmann, im Film.
Oestmann: Intervention in politische Prozesse, teilnehmende Beobachtung – das kann man nur betreiben, wenn was zu beobachten ist. Und das war sein Feld. Deshalb war er im Fach umstritten, unter Wissenschaftlern, deshalb war er auch politisch umstritten. Er hat immer solche leicht poetischen Formulierungen gesucht: »Man kann nicht Lehrer sein ohne ein gewisses Interesse daran, was aus jungen Leuten einmal wird.« Das hat er genau so gemeint, und das ist in den 70ern und besonders den 80ern buchstäblich weggeschmolzen. Bis hin zu diesem Bologna-Prozess, dem Ende jeder Art von organisierter wissenschaftlicher Ausbildung an der Universität. Das hat immer diese Verwaltungsseite, wir sind in Deutschland. Die Preußen müssen ihre Opposition normalerweise nicht erschießen, seit den Stein-Hardenbergschen-Reformen reformieren die die einfach weg.
Seine zweite Suspendierung erfolgte 1977, weil er die freie Meinungsäußerung verteidigte, nachdem in einer Göttinger Studentenzeitung ein Nachruf auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den die RAF erschossen hatte, erschienen war – unter dem Pseudonym »Mecalero«. Im Film ist nun von Brückners Kater »Mescalero« die Rede. Dass der so genannt wurde, war ein typischer Spontiwitz?
Oestmann: Wir können von Glück reden, dass der den Artikel nicht mit Winnetou unterschrieben hat, das wäre peinlich gewesen.
Erinnern Sie sich an die Katze, Herr Brückner?
Brückner: Ich habe ganz wenige, schwache Erinnerungen, die sich bei der Arbeit am Film verflüchtigt haben. Wenn du so viele Dinge siehst und hörst, dann weißt du irgendwann nicht mehr: Ist das jetzt noch meine Erinnerung, oder ist das dieses Foto, das ich gesehen habe?
Ihr Bruder Wolfgang erzählt im Film, »Mescalero« wäre eine wilde, gefährliche Katze gewesen, aber: Sie konnten sie dank Ihrer magischen Kleinkindfähigkeiten problemlos irgendwohin tragen.
Brückner: Wahrscheinlich drückt sich in dieser Geschichte das Gefühl aus, das er hatte, als er den Peter da mit einer Familie sah. Als Wolfgang so klein war wie ich in dieser Zeit, hatte Peter einen völlig anderen Lebensstil. Das hat Wolfgang traurig gemacht, aber man merkt die Größe, mit der er das aufnimmt. Er hasst seinen Vater nicht, ist vor allem einfach traurig. Aber auch sehr lustig. Er ist so ein bisschen ein trauriger Clown in dem Film. Mit ihm ist was passiert, das man sich als Dokumentarfilmer immer wünscht, das aber längst nicht immer passiert: Er ist vor der Kamera sozusagen authentischer als im wahren Leben. Er hat mit mir noch nie so direkt über diese Sachen gesprochen wie vor der Kamera.
Wurde damals eigentlich Weihnachten gefeiert, oder war das ein verbotenes Fest?
Oestmann: Nur mit rotem Stern.
Brückner: Meine Familie besteht aus Leuten, die sich umeinander kümmern. Manche sind verwandt, manche nicht. Wir haben immer gerne zusammen gefeiert. Während ich bei anderen Familien mitbekommen habe: Weihnachten, Horror! Man muss gute Miene zum bösen Spiel machen, habe ich das auch als Kind nicht so wahrgenommen. Das war immer ein relativ lockeres Beisammensein.
Oestmann: Kennen Sie den Text von Brückner über das Osterfest? Da steht drin, was er von solchen Dingen hielt. Er war sozusagen ein Fundamentalchrist in vielen Fragen.
Mit hoher Meinung vom Weihnachtsfest?
Oestmann: Nein, entscheidend war das Osterfest. Er verteidigt Ostern gegen Weihnachten. Weihnachten ist ja ein von den christlichen Kirchen später gegen die Juden und vor allen die Heiden eingeführte Gegenfeierlichkeit. Die wollten da auch was bieten. Aber wir haben alle Weihnachten was gemacht. Weihnachten ist ja was anderes, das ist wie Muhammad Ali und Beckenbauer, das sind Sachen, die laufen außer der Reihe.
Haben Sie denn selbst Familien gegründet, wie man so sagt?
Brückner: Nein.
Oestmann: Ich lebe seit 40 Jahren mit meiner Frau zusammen, das muss reichen.
Im Gespräch mit Brückners Tochter, die in den USA eine Hochschulkarriere gemacht hat, schwenkt die Kamera auf einen Baum hinter dem Fenster, und auf einmal sitzen da A- und Behörnchen, wie in der Micky Maus. Wie kam das zustande?
Brückner: Wir haben uns diese typisch amerikanischen Eichhörnchen bei ihr auf dem Baum oft angeguckt und dann irgendwann auch gedreht. Das dauert natürlich ein bisschen. Tierfilmen ist ja mit viel Geduld verbunden. Man muss warten, bis man sie kriegt.
Oestmann: Eine Frage an die Frager: Sie beide verfolgen unterschiedliche Strategien, oder?
Christof Meueler: Wir sitzen in einem Büro.
Oestmann: Aber Sie sehen da schon noch andere Dinge in dem Film.
Alexander Reich: Als die Eichhörnchen? Die sind mir kaum aufgefallen.
Oestmann: Nein, Ihre Fragen nach der Familie … Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, Sie haben da selber gerade eine kleine Not.
Brückner: Da kommt der Psychologe wieder durch.
Reich: Ja, die Not. Hat die nicht jeder? Wenn man keine Familie hat, geht’s vielleicht. Aber Sie haben doch bestimmt auch Reste irgendwo rumspuken.
Brückner: Gut umgelenkt. Da können Sie sich jetzt vielleicht vorstellen, was es bedeutet hat, einen Film zu machen, der mit Psychologen bevölkert ist. Es ging natürlich die ganze Zeit: Simon, warum willst du denn diesen Film eigentlich machen? Das war die erste Frage: Was wird das jetzt – Vatermord, Heldenverehrung, narzisstische Selbstbespiegelung?
Oestmann: Ich sehe mich noch auf so einer Fete bei einem Freund, der in Hannover ein Brückner-Seminar gemacht hat. Da fragten mich plötzlich zwei Studenten: Warum hat Brückner sich nie über Rechtsradikalismus geäußert? In der Tat gibt es keinen Aufsatz, wo draufsteht: Rechtsradikalismus ist doof und gehört weg. Das war der Ton, der später einzog.
Reich: Dass er Antifaschist war, ist mir klar. Mich hat nur interessiert, wie man Modelle weniger gewaltförmiger Familien entwirft, und es dabei schafft, die eigene auszublenden.
Oestmann: Das sind zwei verschiedene Debatten. Die eine ist: Wie mache ich es selber? Und die andere: Was ist der gesellschaftliche Prozess, innerhalb dessen die Familie steht. Selber machen wir es alle konservativ. Gucken Sie sich doch mal die Anarchos in den Bauwagen an: Kann es was Kleinfamilienmäßigeres geben? Wahrscheinlich nicht. Ich glaube, dass man in diesen elementaren Fragen gegen die gesellschaftlich stärksten Tendenzen nur bedingt ankämpfen kann. Das betrifft solche Sachen wie Weihnachten. Hört sich erst mal lächerlich an, aber erklär deinen Kindern mal, dass sie keine Geschenke kriegen, nur weil du dagegen bist.
Es ist ja schon viel erreicht, wenn man nicht zu den gewalttätigen Vätern gehört, würde ich sagen.
Brückner: Natürlich kann es sein, dass man den Ansprüchen, die man stellt, selbst nicht hundertprozentig gerecht wird, aber deswegen müssen die Ansprüche ja nicht falsch sein. Interessanter bei Peter ist: Er hat im »Abseits« selber drüber geschrieben, wie sein Charakter entstanden ist. Er hat als junger Mensch gelernt, seine Außenseiterrandständigkeitsexistenz, das Abseits, ohne Familie, ohne Schutz und Einbindung in die Gesellschaft, auch als Stärke zu sehen. So konnte er der Faschisierung ein Stück weit entgehen und die Gesellschaft klarer sehen, weil er von außen guckte. Er hat aber selber auch gesagt: Das Abseits ist nur anfangs ein Geschenk, hat es also auch nicht verherrlicht. Dass er dieses Ausgestoßensein auch als Stärke zu sehen gelernt hat, finde ich den interessanteren Aspekt.
Simon Brückner ist 37 und Dokumentarfilmer. Er ist der jüngste Sohn des Sozialpsychologen Peter Brückner (1922–1982). Axel Oestmann ist 68 und Soziologe. Er war ein Freund von Peter Brückner.
Peter Brückner war in den 1970er Jahren einer der bekanntesten Linksintellektuellen der Bundesrepublik. Er war Psychologie-Professor an der Universität Hannover. Obwohl er ein antiautoritärer Kritiker der RAF war, wurde er zweimal vom Dienst suspendiert: 1972 hieß es, er hätte RAF-Leute bei sich übernachten lassen. 1977 warf man ihm vor, den Staat zu verunglimpfen, weil er zusammen mit anderen Professoren und Anwälten den Göttinger »Mescalero-Nachruf« dokumentiert hatte – aus Gründen der Presse- und Meinungsfreiheit. Dieser Nachruf auf den von der RAF erschossenen Generalbundesanwalt Siegfried Buback war in der Zeitung des AStA der Universität Göttingen erschienen. Er enthielt eine Distanzierung von der Gewaltpolitik der RAF, auch wenn eine »klammheimliche Freude« zugegeben wurde, dass es mit Buback einen der größten Linkenfresser getroffen hatte. Für diese Aussage sollten 140 Personen belangt werden, die verdächtigt wurden, damit eventuell etwas zu tun zu haben. Für Brückner und die anderen war das ein Angriff des Staates auf seine Bürger. Von den 48 Herausgebern der »Mescalero«-Dokumentation waren 13 Hochschullehrer in Niedersachsen, wo sie von der SPD-Landesregierung besonders unter Druck gesetzt wurden. Alle widerriefen, bis auf Peter Brückner. 1981 bekam er vor Gericht recht, 1982 starb er an Herzversagen.
»Aus dem Abseits«, Regie: Simon Brückner, D 2015, 112 min, Vorführungen: 18.–20.1. und 22./23.1. in Hannover (Kino im Sprengel), 19.1. in Köln (Filmhaus), 21.1. in Wien (Schikaneder), 24.–27.1. in Freiburg (Kommunales Kino); der Film wird in 3Sat und im RBB ausgestrahlt, Termine stehen noch nicht fest
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
Mehr aus: Feuilleton
-
Bullen, die »A.C.A.B.« hören. Slime spielten in Berlin
vom 24.12.2015 -
Nachschlag: Große Unwissenheit
vom 24.12.2015 -
Vorschlag
vom 24.12.2015 -
Woher wussten Sie ...?
vom 24.12.2015 -
Viva La Habana!
vom 24.12.2015 -
Ende eines Mythos
vom 24.12.2015