Toughe Cousinen
Von Thomas Wagner»Wenn du eine Person liebst, küsse sie oder lass dir was anderes einfallen, wovon ihr beide was habt – aber was immer du tust, lass die Personen, die du liebst, nie mit der falschen Gesellschaft allein!« Barbara Kirchner
Was ich nicht kenne, damit befasse ich mich nicht. So lässt sich die Haltung vieler Linker beschreiben, die sich, mit queerer Politik konfrontiert, eher reserviert zeigen. Das müsste nicht so sein, denn die Berührungspunkte sind leicht auszumachen. Fangen wir bei der Wortbedeutung an. Während »queer« im adjektivischen Gebrauch auf Personen oder Handlungen gemünzt ist, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, bezeichnete »links« ursprünglich jene Delegierten der französischen Nationalversammlung, denen es verwehrt war, die als »ehrenvoll« eingestuften Plätze rechts vom Parlamentspräsidenten einzunehmen. Das betraf zunächst die Republikaner, später Sozialdemokraten und Kommunisten. Wer sich als »links« oder »queer« versteht, weicht also ab von der Norm und sollte für Verhältnisse kämpfen, die es jeder und jedem ermöglichen, zu lieben, wen immer er oder sie mag. Gerade in jüngerer Zeit gingen queerer Aktivismus und linkes Engagement auch in Sachen Theorie eine fruchtbare Verbindung ein.
Ihr Nährboden war eine neue soziale Bewegung, die im September 2011 in New York City ihren Ausgang nahm. Damals trafen im New Yorker Zuccotti-Park jene Protagonistinnen aufeinander, die heute als wichtigste Autorinnen des jüngeren Feminismus gelten. Das Wohnzimmer der Künstlerin Molly Crabapple, deren bürgerlicher Name Jennifer Caban lautet, wurde zu einer Art informellem Zentrum für Journalistinnen und Aktivisten der Occupy-Bewegung. Hier traf die junge britische Journalistin Laurie Penny, die Crabapple bereits im Jahr zuvor in London kennengelernt hatte, auf die Feministin Melissa Grant, die 2014 das Buch »Hure spielen« veröffentlichen sollte. »Sie tranken meinen Kaffee, stöpselten ihre Laptops an meine Steckdosen, arbeiteten auf Deadlines zu«, schreibt Crabapple in ihrer demnächst in englischer Sprache erscheinenden Biographie »Drawing Blood«. Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten trafen auf Künstler; Sexarbeiterinnen, Intellektuelle und obdachlose Jugendliche protestierten gemeinsam gegen Polizeigewalt und Kapitalismus.
»Viele von ihnen waren von zu Hause ausgerissen. Viele waren queer oder transsexuell: die neunzehn Jahre alte Rina, das Pärchen Envy und Franklin, das sich neun Monate zuvor im Camp in Washington kennengelernt hatte, Little Sean aus Philadelphia, der so tief in seinem dreckstarrenden Schlafsack steckte, dass nur die Rastalocken herausschauten; er hatte vor meinen Augen einen Dollar, den er wirklich gebraucht hätte, verbrannt, nur um mir zu beweisen, wie sehr er Geld hasste, und dann hatte er mir erzählt, dass seine Eltern ihn rausgeschmissen hatten. Auf der anderen Straßenseite hielten bewaffnete Polizisten im Schichtdienst Wache und sahen den Demonstranten beim Schlafen zu«, erinnert sich Laurie Penny in ihrem 2015 erschienenen Buch »Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution«.
Penny gehört zur ersten Generation von Feministinnen, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Leidenschaftlich polemisiert sie gegen jene Sorte Feminismus, die den Fortschritt der Emanzipation danach bemisst, wie viele Frauen es in die Vorstände großer Konzerne geschafft haben. Es gebe »schon viel zu viele Vorstandszimmer, und keins von ihnen brennt.« Die im Mainstreamfeminismus davon losgelöste Forderung nach gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist in Pennys Augen dazu geeignet, den Druck auf die Frauen noch weiter zu erhöhen. Einer alleinerziehenden Mutter, die ihre Arbeitskraft für einen Niedriglohn verkaufen muss, mag das verpönte Hausfrauendasein einer Angehörigen der Mittelschicht in den 1950er Jahren beinahe wie eine Utopie vorkommen. Auch stört sie sich daran, dass in den vergangenen Jahren vor allem jene feministischen Kampagnen beachtet wurden, die sich mit dem Kampf gegen Pornographie oder mit der Prostitution befassten. Dabei seien Frauen, die ihr Geld mit Sexarbeit verdienen, nicht als handlungsfähige Subjekte, sondern als passive Opfer von Gewalt wahrgenommen worden.
Crabapple wird von Penny als ihre »Muse und Heldin« bezeichnet. Aus dem Kreis um die New Yorker Künsterlin ging ein informelles Autorinnennetzwerk hervor, dem auch Nina Power zugerechnet werden kann. Sie war es, die die Bloggerin Penny an den britischen Verlag Zero Books vermittelte. In ihrem dort erschienenen Buch »Fleischmarkt« bedankt sie sich bei der Philosophin für deren »strahlende feministische Intelligenz«. Dabei handelt es sich um mehr als den Austausch von Höflichkeiten. Gemeinsam ist den Autorinnen eine Offenheit gegenüber Fragen des sexuellen Begehrens, die vom Mainstreamfeminismus und großen Teilen der etablierten Linken entweder ignoriert oder auf eine wenig emanzipatorische Weise beantwortet werden. So begibt sich Power in ihrem Essay »Die eindimensionale Frau« auf die Suche nach einer verborgenen Geschichte der Pornographie, »die weniger von aufgespritzten, kahlrasierten Körpern bevölkert wäre, welche sich wechselseitig gefügig machen, als vielmehr eine Geschichte der Zärtlichkeit und Albernheit, mit Körpern, die nicht jederzeit funktionieren und schnurren wie gut geölte Maschinen« enthülle. Und Penny prangert in »Fleischmarkt« den von einigen prominenten und radikalen Feministinnen betriebenen Ausschluss transsexueller Frauen als vermeintlich verkleideter Männer aus der queeren Gemeinschaft an. Diese Praxis rühre von »einer krassen und tragischen Verständnislosigkeit« her. Sie beharrt darauf, »dass Geschlechtsidentität nicht in unseren Genen festgeschrieben ist, sondern ein emotionaler, persönlicher und sexueller Zustand ist, der unendlich vielgestaltig ausgedrückt werden kann und sich weit über die binären Kategorien von ›Mann‹ und ›Frau‹ hinaus erstreckt.« Daher ist »Transaktivismus« für Penny ein notwendiger Teil der feministischen Bewegung.
Sie und Power opponieren gegen »den offensichtlichen Verzicht auf jegliches systematische, politische Denken seitens der optimistischen, gutgelaunten Feministinnen von heute.« Für die Philosophin heißt das, sich gegen die »Kooptation der Sprache des Feminismus durch Leute« zu wehren, »die noch vor zehn oder fünfzehn Jahren lautstark gegen feministische Werte gewettert haben. Sowohl der Angriff auf Afghanistan als auch der Krieg im Irak wurden unter Berufung auf die Befreiung der Frauen gerechtfertigt, und man berief sich dabei explizit auf den feministischen Diskurs.« Es könne nicht angehen, dass »Rassisten keine Rassisten, sondern linke Leute seien, wenn sie ihre Hetze gegen Nichteuropäer als Kampf für die Rechte sexueller Minderheiten drapieren«, bewertet Barbara Kirchner die jüngsten Verrenkungen rechter Ideologie. In ihrer Einleitung zu Alexandra Kollontais »Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin« kommt sie auf das Verbindende von sozialistischer und queerer Politik zu sprechen. Es handele sich um »Versuche, das gesellschaftliche Leben bewusst zu verändern, seine Naturwüchsigkeit nicht hinzunehmen. Dabei darf man sich nie auf Gewohnheiten, Automatismen, aufs Einrasten einer einmal gefundenen Alternative zum Naturwüchsigen als verbindliche Erlösung verlassen.«
Der Schwerpunkt dieser Beilage widmet sich dem manchmal schwierigen Verhältnis von queerem Engagement und linker Politik. Der Schriftsteller Erwin Riess stellt einen von ihm herausgegebenen Sammelband zur gesellschaftlich immer noch unterdrückten und von den Betroffenen eingeforderten Sexualität behinderter und kranker Menschen vor. Seine Kollegin Anne Bax verdeutlicht in einer Kurzgeschichte den Unterschied zwischen Sex mit weich oder scharf gesprochenem »S«. Barbara Slawig erinnert an Ursula K. Le Guins queerfeministischen Romanklassiker »Die linke Hand der Dunkelheit«, und Rebecca Mascos nimmt uns mit auf ihren langen Weg in fremde Betten. Außerdem geht es um den gerade erschienenen Band mit Kurzgeschichten von Laurie Penny.
Gleichgeschlechtliche Beziehungen spielen in der Animeserie »Sailor Moon« eine Rolle, einer Adaption der Mangareihe der Zeichnerin Naoko Takeuchi, die ab 1995 im Nachmittagsprogramm des ZDF auch in Deutschland ein begeistertes, vor allem jugendliches Publikum fand. Dem wurde die Beziehung zwischen den schönen Jünglingen Zoisite und Kunzite, den Lakaien der Oberbösewichts, allerdings vorenthalten. Die Sendeverantwortlichen verpassten dem Pferdeschwanz tragenden, feminin wirkenden Zoisite kurzerhand eine weibliche Synchronstimme. Hingegen durfte eine lesbische Liebe auf seiten der »Guten«, also der Sailor-Kriegerinnen, praktiziert werden. Zumindest in Deutschland. Haruka und Michiru, beziehungsweise Sailor Uranus und Sailor Neptun sind von Anfang an ein Paar. Die toughe Motorradfahrerin Haruka flirtet bisweilen auch mit anderen Mädchen. In Frankreich deklarierte man das Paar kurzerhand zu »Cousinen« um.
Womit wir beim Comic-Extra dieser Beilage angelangt wären. Das enthält unter anderem ein Gespräch mit Dirk Rehm über den von ihm vor 25 Jahren gegründeten Verlag Reprodukt. Michael Streitberg zeichnet ein Portrait des Mangagroßmeisters Shigeru Mizuki. Gewürdigt werden die wiederentdeckten Klassiker »Eternauta« und »Lone Sloane«. Hinzu kommen Besprechungen neuer Alben von Daniel Clowes und Craig Thompson sowie Rezensionen der Erfolgsserien »Die alten Knacker« und »Saga«.
Diese Beilage enthält außerdem ein Gespräch mit der Autorin Eva Ruth Wemme über die Situation von Flüchtlingen in Berlin sowie Besprechungen von Gisela Elsners Fragment gebliebener Erzählung »Die teuflische Komödie«, Sascha Rehs Roman »Gegen die Zeit« über Salvador Allendes cybersozialistisches Experiment und vielen Büchern mehr. Viel Vergnügen!
Laurie Penny: Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Edition Nautilus, Hamburg 2015, 288 Seiten, 16,90 Euro
Laurie Penny: Fleischmarkt. Edition Nautilus, Hamburg 2012, 128 Seiten, 12,90 Euro
Barbara Kirchner: »Kampf der allgemeinen Einsamkeit!« in: Alexandra Kollontai: Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Laika-Verlag, Hamburg 2012, 104 Seiten, 8,50 Euro
Nina Power: Die eindimensionale Frau. Merve-Verlag, Berlin 2011, 112 Seiten, 10,00 Euro
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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