Leitfaden politischer Praxis
Von Arnold SchölzelAm 2. Juli 1916 berichtete Wladimir Iljitsch Lenin aus dem Exil in Zürich dem marxistischen Historiker Michail Nikolajewitsch Pokrowski in Paris: »Ich schicke heute eingeschrieben unter Kreuzband das Manuskript an Sie ab.« Gemeint war Lenins Studie über den Imperialismus. Der russische Revolutionär hatte wenige Monate zuvor von dem in Petrograd unter der Leitung Maxim Gorkis gegründeten legalen Verlag »Parus« (Das Segel) das Angebot erhalten, seine geplante Untersuchung über den Imperialismus für diesen Verlag zu schreiben. In seinen Erinnerungen schrieb Pokrowski, Lenins Arbeit sei als Einführung für eine Broschürenserie unter dem Titel »Europa vor und während des Krieges« gedacht gewesen.
Das nach Paris geschickte Manuskript der Studie beschlagnahmte die französische Militärzensur. Es musste ein zweites Exemplar angefertigt und versandt werden, so dass der Verlag das Buch erst im Januar 1917 in Druck geben konnte, bis zum Erscheinen vergingen noch einmal mehrere Monate. Nach der Februarrevolution konnte Lenin nach Russland zurückkehren und schrieb für die Broschüre ein neues Vorwort. Allerdings hatte die Redaktion des Verlages unter anderem Lenins scharfe Kritik am führenden Theoretiker der Zweiten Internationale, Karl Kautsky, sowie am Sprecher der Menschewiki, Julius Martow, gestrichen und nahm weitere Änderungen vor – sehr zum Unwillen des Autors.
Den 100. Jahrestag der Fertigstellung des Manuskripts nahm der Verlag 8. Mai, in dem die Tageszeitung junge Welt sowie die Musikzeitschrift M&R erscheinen und der seit einigen Jahren die Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe der Werke Lenins besitzt, zum Anlass, eine kommentierte Neuedition zu veröffentlichen. Die Initiative dazu hatten die beiden Historiker Wladislaw Hedeler und Volker Külow ergriffen. Eine Bitte an die Leser der jungen Welt um Beiträge zur Finanzierung des Buches stieß auf große positive Resonanz, und so konnte es am 4. Juni 2016 auf einer eintägigen Konferenz von Marx-Engels-Stiftung Wuppertal und junge Welt in Berlin vorgestellt werden. Die dort gehaltenen Referate sind in zum Teil stark gekürzter Form in dieser Beilage enthalten.
Im Zentrum der Tagung und auch der Essays des Schriftstellers Dietmar Dath und des Philosophen Christoph Türcke in der Neuausgabe stand die Frage nach der Aktualität der Leninschen Arbeit. Die Tagungsteilnehmer und die genannten Autoren waren sich einig, dass Lenin wesentliche Zusammenhänge von Wirtschaft und Politik in der neuen Epoche des Kapitalismus aufzeigte. Daraus zog er sowohl für den Kampf der internationalen Linken gegen den imperialistischen Krieg wie auch hinsichtlich der Voraussetzungen für eine sozialistische Umwälzung wichtige Schlussfolgerungen. Sie wurden Leitfäden der politischen Praxis von russischen Bolschewiki, von Kommunisten, Sozialisten und Vertretern der antikolonialen Befreiungsbewegung weltweit und bis heute. Trotz aller technischen Wandlungen und politischen Veränderungen in den vergangenen 100 Jahren steht fest, dass in Lenins Buch wesentliche ökonomische Prozesse analysiert werden, die sich auch heute vollziehen. Mögen Konzentration und Zentralisation der Produktion, die Stellung des Finanzsektors im wirtschaftlichen Gefüge oder der Kapitalexport Dimensionen erreicht haben, die der russische Revolutionär nicht erahnen konnte: Er hat auf klassische Weise das Wesen der Produktionsverhältnisse dieser Gesellschaft umrissen. An dem hat sich wenig verändert.
Wladimir Iljitsch Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss. Kritische Neuausgabe mit Essays von Dietmar Dath und Christoph Türcke, herausgegeben von Wladislaw Hedeler und Volker Külow. Verlag 8. Mai, Berlin 2016, 357 Seiten, 24,90 Euro. Im jW-Shop.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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