Lob der »Nebenwidersprüche«
Von Michael ZanderNach dem Sieg Donald Trumps im US-Präsidentschaftswahlkampf äußerten sich Vertreter der Behindertenbewegung besorgt (Huffington Post, US-Ausgabe, 10.11.2016). Durch die Medienberichterstattung waren drastische Ausfälle des republikanischen Kandidaten gegenüber Menschen mit Handicap bekanntgeworden. In einer Wahlkampfveranstaltung hatte sich Trump über die chronische Krankheit des Journalisten Serge Kovaleski lustig gemacht. Den querschnittsgelähmten Kommentator Charles Krauthammer nannte er einen »Typen, der sich selber kein paar Hosen kaufen« könne. Die nahezu gehörlose Schauspielerin Marlee Matlin (»Desperate Housewives«, »The L Word«) soll er als »zurückgeblieben« bezeichnet haben. Derartigen Beleidigungen muss man zweifellos entgegentreten, allerdings nicht nur mit Empörung, sondern vor allem mit Verachtung. Aus der Aufregung über ihre Äußerungen ziehen sonst Leute wie Trump noch Gewinn. Hierzulande haben wir Erfahrungen mit Figuren wie Thilo Sarrazin, Frauke Petry oder Günther Oettinger gemacht.
Doch nicht in erster Linie Trumps Injurien sind es, die Vertreter der US-Behindertenbewegung veranlassen, sich auf Auseinandersetzungen vorzubereiten. Es ist sein politisches Programm. Der Milliardär hat wiederholt erklärt, die staatlich unterstützte Krankenversicherung nach dem »Patient Protection and Affordable Care Act« (»Obamacare«) zu beseitigen oder zumindest stark zurückzufahren. In einem Positionspapier zeigt sich der designierte US-Präsident marktradikal: Er will eine Gesundheitsreform nach den »Prinzipien des freien Marktes«. Demnach solle niemand verpflichtet werden, sich zu versichern; Versicherer müssten in einen »freien Wettbewerb« miteinander treten; Beschränkungen des Marktes seien auch zugunsten der Pharmaindustrie zu beseitigen.
Es ist nicht schwer, hinter dieser Politik die materiellen Interessen der privaten Versicherer, der Arzneimittelhersteller und des nunmehr konservativ dominierten Staatsapparats zu erkennen, zumindest dann nicht, wenn man gelernt hat, darauf zu achten. Ein geeignetes analytisches Werkzeug dafür bietet der dialektische und historische Materialismus, gemeinhin Marxismus genannt. Doch selbst viele Linke hegen ihm gegenüber Vorbehalte. Sie halten ihm zu Unrecht vor, nur den angeblichen »Hauptwiderspruch« zwischen Kapital und Arbeit ernst zu nehmen. Schon in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts aber haben sich Menschen beispielsweise gegen Rassismus oder für die Emanzipation von Frauen engagiert. Der Marxismus untersucht die Struktur, die Grenzen und Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung. Seine intellektuelle und politische Fruchtbarkeit muss sich auch in der Behandlung sogenannter Nebenwidersprüche erweisen. Dem Anspruch nach ist er eine wissenschaftliche Theorie, keine Glaubenslehre. Von daher geht es nicht um Sektierertum und Purismus, sondern um eine offene Debatte.
Auch im Bereich der Behindertenpolitik spitzen sich die Widersprüche zu, das zeigen die Artikel in dieser Beilage. Von der prekären Situation behinderter Flüchtlinge in der Bundesrepublik berichtet Swantje Köbsell. Die britische Aktivistin Linda Burnip schildert das politisch rechte Klima in ihrem Land nach dem »Brexit«. Claudia Wrobel geht der Frage nach, wie sich die deutschen Gewerkschaften für behinderte Beschäftigte einsetzen. Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, blickt auf das ablaufende Jahr und insbesondere auf die Proteste gegen das Bundesteilhabegesetz zurück, das voraussichtlich am Freitag verabschiedet werden wird. Im Interview mit Rebecca Maskos schildert Matthias Grombach, wie er sich gegen den Widerstand der Behörden aus einem Heim befreite und warum er sich gegen das Gesetz engagiert. Erika Feyerabend kritisiert, dass die Gesellschaft es Menschen subtil nahelegt, sich im Fall von schwerer Krankheit für »passive Sterbehilfe« zu entscheiden. Was Kritik an Gen- und Biotechnologie mit Behindertenpolitik zu tun hat, erklärt Anna Bock anlässlich des 30jährigen Bestehens des »Gen-ethischen Netzwerks«.
Die Frage, welche Konflikte in einer Gesellschaft eine Hauptrolle spielen und welche nebensächlich erscheinen, ist falsch gestellt. Sie muss lauten: Finden die sozialen Bewegungen, die sich Rechtspopulismus und Neoliberalismus entgegenstellen wollen, eine gemeinsame Grundlage, um die Ursache der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen und für eine egalitäre Alternative zu streiten?
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Inland
-
Drehscheibe für die Ostfront
vom 14.12.2016 -
»Rückkehrer können sich gar nicht niederlassen«
vom 14.12.2016 -
Solidarität mit HDP-Abgeordneten
vom 14.12.2016 -
Mehr Menschen überschuldet
vom 14.12.2016 -
Ohne Skrupel
vom 14.12.2016 -
Reformen mit Ramelow
vom 14.12.2016 -
Mehr Kohle bei der Bahn
vom 14.12.2016 -
Geburtshilfe bringt keine Profite
vom 14.12.2016 -
»Staat versucht seit geraumer Zeit, uns zu kriminalisieren«
vom 14.12.2016