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Aus: Sozialistische Alternativen erkämpfen, Beilage der jW vom 14.01.2017
Türkei

»Wir haben unsere Hoffnung niemals aufgegeben«

Ein Gespräch. Mit Tugba Hezer. Über die politische Situation in der Türkei, die Lage der Kurden in dem Land und Perspektiven des Widerstands gegen das Erdogan-Regime
Interview: Michel Knapp
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Solidaritätsdemonstration in Rom für Abdullah Öcalan und die von Verfolgung bedrohte prokurdische Partei HDP (19.11.2016

Was können Sie uns zur Lage Ihrer in der Türkei inhaftierten Parteikollegen sagen?

Die HDP ist die drittstärkste Partei im Parlament. Doch elf ihrer Abgeordneten einschließlich unserer beiden Kovorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag befinden sich seit mehr als zwei Monaten in Einzelhaft. Faktisch sind sie Geiseln des Staates. Seit Ausrufung des Ausnahmezustandes im Juli letzten Jahres wurden 2.500 Führungspersonen, Mitglieder und Sympathisanten der HDP inhaftiert. Festgenommene können 30 Tage lang ohne Richterbeschluss inhaftiert werden, erst nach fünf Tagen haben sie das Recht, ihre Anwälte zu sehen. In den Gefängnissen wird verschärfte Isolationshaft praktiziert. Freigelassene Freunde berichten von physischer und psychischer Folter. Ebenso gibt es sexualisierte Gewalt gegen Frauen.

Die landesweiten Gezi-Proteste im Sommer 2013 gegen die autoritäre AKP-Herrschaft stellten eine große Hoffnung dar. Was ist davon geblieben? Sind die Kurden in ihrem Widerstand gegen Erdogan wieder allein?

Gezi war ein Ausbruch der Wut gegen die Herrschenden. Niemand hätte davor einen solchen Widerstand erwartet. Niemand kann wissen, wann die Völker sich erheben und Widerstand leisten. Das kann nicht am Schreibtisch geplant werden. Die Regierung stellt jede Aktion auch für die grundsätzlichsten Rechte durch die von ihr kontrollierten Medien als Terrorismus dar. Aufgrund dieser antidemokratischen Herrschaft schweigen die Völker in der Türkei heute wieder, aber sie sind wütend.

Nach dem Putsch vom 12. September 1980 hatten viele Menschen die Hoffnung verloren. Aber überzeugte Revolutionäre unter ihnen haben weitergekämpft, und die Putschisten haben verloren. Heute erinnert man sich nicht an die Putschisten, aber man erinnert sich an diese revolutionären Führer und gedenkt ihrer in Dankbarkeit. Wenn wir keine Hoffnung mehr hätten, würde das bedeuten, wir hätten verloren.

Die HDP wurde als eine Dachpartei aller Unterdrückten konzipiert. Inwieweit existiert dafür heute aufgrund der chauvinistischen Verhetzung großer Teile der türkischen Gesellschaft noch eine Grundlage?

Die HDP ist derzeit die einzige oppositionelle Partei, die gegen die Politik der AKP und die Einmanndiktatur Erdogans furchtlos und entschlossen Widerstand leistet. Daher kann überhaupt nicht die Rede von einem Ende der HDP sein. Die 13 Prozent, die wir bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 gewonnen hatten, waren die Antwort der Völker der Türkei auf die Staatsstruktur, die nur eine türkisch-sunnitische Identität zulässt und alle anderen entweder verleugnet oder zu vernichten versucht. Sie hat dafür gesorgt, dass Erdogan sein Präsidialsystem nicht wie geplant durchsetzen konnte und die AKP die absolute Mehrheit verlor. Um sich an der Macht zu halten, stürzte Erdogan das Land ins Chaos und ließ die Wahlen im November 2015 unter Bedingungen des Ausnahmezustands wiederholen. Trotz all dieser schmutzigen Bestrebungen zu ihrer Kriminalisierung überwand die HDP die Zehnprozenthürde erneut.

Wie bewerten Sie die Rolle der sozialdemokratisch-kemalistischen Repu­blikanischen Volkspartei CHP, die mit rund 25 Prozent die stärkste Opposi­tionsfraktion im Parlament stellt?

Die CHP ist ihrer Verantwortung als stärkster Oppositionspartei nicht nachgekommen. Sie hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass Erdogan und die AKP dieses Land in diese Krise führen konnten. Die CHP hat sich nicht ernsthaft mit der kurdischen Frage auseinandergesetzt und damit die Haltung der Regierung übernommen. Deshalb hat sie zu den Massakern der AKP gegenüber den Kurden geschwiegen. Als im Mai letzten Jahres die Immunität der HDP-Abgeordneten im Parlament aufgehoben wurde, hat die CHP-Führung erklärt: »Das ist zwar verfassungswidrig, wir werden aber zustimmen.« Die CHP-Abgeordneten haben auch für die neue Vollmacht für grenzüberschreitende Militäroperationen, das heißt für den Krieg, gestimmt. Sie haben keinen Widerspruch dagegen erhoben, dass die HDP seit dem Putschversuch vom 15. Juli von allen Treffen der Regierung mit den Parteivorsitzenden oder aus der Verfassungskommission ausgeschlossen wurde. Das sind nicht nur gegen die HDP gerichtete antidemokratische Maßnahmen, es geht vielmehr um Demokratie und Frieden in der Türkei insgesamt. Gleichzeitig greift der Faschismus im Land nicht nur die HDP an, sondern jeden, der dieses Regime nicht akzeptiert. Die CHP merkt jetzt allmählich, dass der Faschismus auch an ihre Tür klopft, aber sie reagiert nicht entsprechend. Dennoch: Es ist nie zu spät, den Frieden, die Demokratie und die Freiheit zu verteidigen. Wenn jetzt über ein Präsidialsystem – sprich die Einmanndiktatur – im Parlament abgestimmt wird und es dann zum Referendum darüber kommt, muss auch die CHP ihre Rolle erfüllen. Alle Revolutionäre, Demokraten, Antikapitalisten, Umweltschützer, Frauen müssen jetzt allen Differenzen zum Trotz zusammenstehen.

Inwieweit stellt eine rassistische, antikurdische Haltung in Teilen der Opposition ein Hindernis für einen gemeinsamen Kampf dar?

Das wichtigste Problem der Türkei ist das kurdische. Ohne seine Lösung kann sich dort keine Demokratie entwickeln. Das ist keine Frage, die nur fallweise, individuell gelöst werden kann. Die Kurden müssen als Volk akzeptiert werden. Erdogans Politik ist verhetzend und polarisierend. Die Mainstreammedien sind Sprachrohre dieser Politik, sie haben ihre Unabhängigkeit verloren. Deshalb haben sich die rassistischen und faschistischen Diskurse verstärkt und damit auch die Angriffe in der Gesellschaft zugenommen. Es reicht schon aus, kurdisch zu sprechen, um gelyncht zu werden.

Ist es denn überhaupt noch realistisch, eine Lösung mit der Türkei zu finden, oder müssen die Kurden einen eigenen Weg gehen?

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Tugba Hezer, per Haftbefehl gesuchte HDP-Abgeordnete im türkischen Nationalparlament

Natürlich wäre es möglich zusammenzuleben, wenn es rechtliche Garantien für alle gäbe, für ihre Sprache, ihre Identität, Lebensweise und Weltanschauung. Die Situation heute mag sehr schlecht aussehen. Aber es ist nicht die türkische Gesellschaft, die rassistisch ist. Es sind die Regierung und die von ihr abhängigen Medien, die die Gesellschaft entsprechend beeinflussen. Diese Politik führt das Land in die Spaltung.

Gegen einen AKP-Gesetzentwurf zur Straflosigkeit von Vergewaltigungen Minderjähriger bei nachträglicher Eheschließung gingen im November letzten Jahres trotz des Ausnahmezustandes landesweit Tausende Frauen auf die Straße. So konnte das Gesetz verhindert werden. Gibt es eine organisierte Zusammenarbeit von Frauen gegen das AKP-Regime?

Die AKP-Regierung war gezwungen, aufgrund der Einheit der Frauen gegen das Vergewaltigungsgesetz einen Schritt zurückzugehen. Die Frauen waren immer die Quelle der Hoffnung in diesem Land. Umgekehrt haben unterdrückerische Kräfte, die an die Macht kommen wollten, stets zuerst versucht, sie aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen. Die sexistische Politik der AKP beschränkt sich nicht nur auf das Vergewaltigungsgesetz. Morde an Frauen, Vergewaltigungen, die Missachtung der Frauenarbeit nahmen während der 14jährigen Regierungszeit der AKP immer weiter zu. In den Kommunen, die in den letzten Monaten von der Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, hat man die aus einer Frau und einem Mann bestehende Kobürgermeisterschaft beseitigt und statt dessen erneut einzig Männer eingesetzt. Die dortigen Räume der frauenpolitischen Initiativen und die Fluchthäuser für Frauen wurden geschlossen. Wenn wir dann noch bedenken, dass die AKP eine schreckliche Vergewaltigerarmee wie den IS unterstützt hat, dann wird ihre Sicht auf Frauen klar. Doch die AKP hat mit ihrer frauenfeindlichen Politik eine scharfe Gegenreaktion provoziert und dafür gesorgt, dass Frauen zusammenfinden. Eigentlich sollten wir uns dafür bei der Regierung bedanken, denn sie hat uns Frauen unsere Stärke vor Augen geführt. Eine Gesellschaft, in der die Frauen nicht frei sind, ist nicht frei, doch mit freien Frauen wird eine freie Gesellschaft aufgebaut werden.

Wie bewerten Sie die aktuelle Lage in Nordkurdistan – den mehrheitlich von Kurden bewohnten Landesteilen der Türkei?

Dort erleben wir die Putschzeit der 80er Jahre erneut, allerdings mit dem Unterschied, dass in den 80er Jahren keine Städte niedergebrannt wurden. Das ist etwas, was die Regierung in den ersten Jahren nach Gründung der Republik praktiziert hatte, als sie versuchte, die Völker zu vertreiben und zu ermorden. Aber unsere Bevölkerung verlässt nicht ihre Orte und ihr Zuhause. Auch unter Winterbedingungen und trotz der staatlichen Repression hält der Widerstand an, und auch das Solidaritätsnetzwerk unter der Bevölkerung besteht weiter.

Wie erklären Sie sich die besondere Heftigkeit der derzeitigen Angriffe auf die kurdische Bewegung?

Das hängt selbstverständlich mit dem hohen Kampfniveau und Organisierungsgrad der Kurden zusammen. Man kann die Situation in Nordkurdistan nicht von Erdogans Mittelostpolitik trennen. Die Kurden werden von Erdogan als das größte Hindernis in seinem Hegemoniestreben angesehen, und so versucht er, ihre Errungenschaften zu vernichten. Insbesondere das in Rojava in Nordsyrien von den Kurden gemeinsam mit den anderen dort lebenden Völkern errichtete demokratische System ist der Grund für seine Unduldsamkeit. Es sind die Kurden, die im Mittleren Osten den entschlossensten Kampf gegen alle dschihadistischen Gruppen führen und sich in der Dunkelheit als Kraft der Aufklärung präsentieren. Insbesondere der Kampf der Frauen hat das Potential, die Geschichte des Mittleren Ostens nachhaltig zu ändern. Das, was die Kurden trotz all der schweren Angriffe aufrecht stehen lässt ist, ist ihre Überzeugung, für eine gerechte Sache zu kämpfen.

Regierungsnahe türkische Medien behaupten ja, die kurdische Bevölkerung gehe jetzt auf Distanz zur kurdischen Freiheitsbewegung, weil diese durch den Bau von Gräben und Barrikaden den Krieg in die Städte getragen habe. Spüren Sie das auch als HDP?

Diese Abwehrmaßnahmen mussten immer wieder als Grund für die Aggression herhalten, aber sie sind die Konsequenz aus der Repression des Staates. Nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 wurde der Friedensdialog von seiten der AKP beendet. Als der Staat überall in Kurdistan angriff, hob die Bevölkerung zur Verteidigung Gräben aus. Wir haben damals als HDP auf allen Ebenen versucht zu deeskalieren, aber Erdogan hatte die Entscheidung zum Krieg getroffen und nicht die Absicht, irgend jemandem zuzuhören. Was die staatsnahen Medien sagen, spielt keine Rolle – die Menschen sehen ja, was geschieht. Vielleicht werfen sie uns vor, dass wir keine noch aktivere Politik betrieben, die Grausamkeiten nicht noch mehr in der Welt bekannt gemacht haben. Aber unsere Freunde können aufrechten Hauptes durch Kurdistan gehen und erhalten keinerlei negative Reaktion. Denn das Volk hat verstanden, dass seine Institutionen, Parteien und gewählten Vertreter zum Ziel der Angriffe des Staates wurden. Die Menschen haben gesehen, wie ihre Verwandten von paramilitärischen Kräften vor ihren Augen ermordet wurden. Die Staatsmedien haben darüber nie berichtet. Sie haben nur versucht, mit gezielter Meinungsmache die Gesellschaft zu manipulieren, aber diese Bemühungen haben ihr Ziel nicht erreicht. Als die Immunität der Abgeordneten aufgehoben und sie verhaftet wurden, ging das Volk in Massen auf die Straßen.

Zentral im Programm der HDP ist die Forderung nach einer auf Dezentralisierung der staatlichen Strukturen und rätedemokratischer kommunaler Selbstverwaltung beruhenden »demokratischen Autonomie«. Im Sommer 2015 hat eine Reihe von Städten in Reaktion auf den Abbruch der Friedensgespräche der Regierung mit der kurdischen Seite einseitig ihre Autonomie erklärt. Was ist heute davon geblieben?

Das aktuelle Staatsverständnis berücksichtigt nicht die Struktur der Völker in der Türkei. Beispielsweise wurden Dutzende Wasserkraftwerke und Staudämme errichtet, Atomkraftwerke gebaut, die Umwelt wurde verwüstet. Für keines dieser zentral beschlossenen Projekte wurden die Menschen in der betroffenen Region um Erlaubnis gefragt. Der Wille der Bevölkerung wurde ignoriert, und der Widerstand gegen diese Projekte wurde mit schwerer Repression beantwortet – wie im Falle der Proteste gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul. Wir haben die Frage der Demokratischen Autonomie mit den linken, sozialistischen Strömungen in der Türkei und unserer Bevölkerung in Kurdistan jahrelang diskutiert. Wir haben auch ein Rätesystem errichtet und am praktischen Aufbau der Demokratischen Autonomie gearbeitet. Unter dem Vorwand des Ausnahmezustands wurden jetzt alle diese demokratischen Einrichtungen und Vereine geschlossen, auch die von der Bevölkerung gebildeten Volksräte in den Stadtvierteln und Dörfern. Alle demokratischen Strukturen werden vom Erdogan-Regime als Bedrohung angesehen. Allerdings können diese Angriffe nicht die Existenz und Legitimität des Widerstands beseitigen. Sie können unsere Institutionen auf ungesetzliche Weise schließen, aber jeder Ort, an dem wir atmen, ist ein Ort des Widerstands.

Tugba Hezer (geb. 1989 in Ercis/Van) arbeitete als Lehrerin, bevor sie im November 2015 für die linke prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) als jüngste Abgeordnete ins Parlament der Türkei gewählt wurde. Hezer hält sich derzeit in Europa auf, um dort die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Partei zu unterstützen. In der Türkei liegt ein Haftbefehl gegen die Abgeordnete vor. Ihr wird Mitgliedschaft in der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK vorgeworfen.

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