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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 11.10.2017
Science-Fiction

Zur Sonne, zur Freiheit

Dietmar Dath hat einen Roman über solare Intelligenzen, über Menschen auf dem erdnächsten Stern und über Mathematik geschrieben
Von Daniel Bratanovic
16. August 1962 – Rede anlässlich der Eröffnung der Werft »Chull
16. August 1962: Che hält eine Rede anlässlich der Eröffnung der Werft »Chullima« in Havanna (aus dem Band »Che – Die ersten Jahre. Unveröffentlichte Fotos 1959–1964«, hrsg. von René Lechleiter, Verlag 8. Mai GmbH 2017)

»Flecken. Penumbra, Umbra, gigantisch. Sie lebt. Sie hat Zellen, größer als der allgemeinste Gedanke, den er denken kann.« Die Reise zur Sonne gleicht der Szene am Schluss von »2001 – Odyssee im Weltraum«. Der Film, den die Helden fahren, heißt aber »Bürgerkrieg und Magnetstürme«. Die scheinbar disparaten Elemente gehören zusammen: Es sind die solaren Eruptionen, die da miteinander im Hader liegen. Politik auf der Sonne, fortgesetzt mit anderen Mitteln. Gigantische Tornados in der äußeren Atmosphäre des massereichen Himmelskörpers stehen sich gegenüber – überlegene Intelligenzen und zugleich Trichter zwischen Leuchtschicht und Korona, Tausende von Kilometern hoch, breit und tief, die sich mit Zehntausenden von Stundenkilometern drehen und an ihrem jeweiligen Ausgang mehr als eine Million Grad Celsius heiß sind. Die Sonne lebt, aber durch sie geht ein Schnitt.

Die Anhänger der einen Parteiung, die Idempotenten, wollen sich selbst gleich bleiben und »am liebsten in eine der möglichen Vergangenheiten kriechen«, im Vokabular der Erde »Reaktionäre«. Die anderen, die Exogamen, streben nach außen, suchen den Kontakt mit den anderen Sonnen der Galaxie – und die Hilfe der Menschen. Eine Abgesandte mit dem mythischen Namen Tereisias in Gestalt einer Schülerin rekrutiert auf der Erde einen vermögenden Koch, eine alte, ehemals maoistische Pianistin, einen verlassenen Straßenmusiker, einen Physiker, der sein Talent der Finanzberatung andient, und eine verhinderte Mathematikerin. »Eine ziemliche Gurkentruppe, eigentlich.« Sie sollen etwas herausfinden über das enigmatische Koronakind, das an einem windstillen Ort der Sonne zur Welt kam und Kenntnisse über das Innenleben des Sterns aus Zeiten lange vor seiner Geburt mitbrachte. Das Koronakind ist der Grund, warum die Sonnenwesen in Streit gerieten. Den einen machte es Hoffnung, den anderen Angst. Es musste gehen und bleibt verschwunden.

Eine seltsame Welt ist das, die den Sternenfahrern von der Erde auf der Sonne begegnet – nicht feindlich, nicht freundlich, ein Abbild, eine Variation menschlicher Umgebung, an Vertrautes gemahnend, weil es Häuser gibt und Menschenähnliche, die sie bewohnen, fremd, weil es einen merkwürdigen, sich bewegenden Wald gibt, aber keine Tiere. Etwas stimmt nicht, ist atmosphärisch beklemmend, vielleicht so, wie in der Schlussszene von Andrej Tarkowskis »Solaris«, und doch ganz anders. Im Wald haust ein Ungeheuer mit vielen zehntausend Köpfen, ein Schreckenswesen, das in Wahrheit ein Mathemonster in einem 196.883-dimensionalen Vektorraum ist. Ein phantasmagorisches Abbild einer unzugänglichen, weil zu abstrakten Welt.

Dietmar Dath hat einen Roman vorgelegt, der mal sperrig ist, mal packend, so oder so jedoch herausfordernd. Zahlreiche Andeutungen lassen sich nicht auf Anhieb erschließen. Die Mathematik, genauer die Kategorientheorie, bildet dabei den Continuo, stets präsent, oft genug explizit. Kategorientheorie – das ist so etwas wie die allgemeine Theorie mathematischer Strukturen, die alle Sachverhalte und Regeln in einheitlicher Sprache mittels Morphismen definiert und in Beziehung zueinander setzt – eine höchst abstrakte Lingua universalis, Sprache des Alls. Zugegeben, das Mathezeugs ist nicht immer nachvollziehbar und mag von einigen, darunter denjenigen Romanfiguren, die davon keine Ahnung haben, also den meisten, als nervtötend empfunden werden. Faszinierend daran aber ist, dass der Roman selbst als eine Art literarischer Morphismus funktioniert. Die Menschen auf der Sonne sind Repräsentationen ihrer selbst, ihre menschengleichen Gastgeber wiederum Isomorphismen der solaren Stürme – die Mathematik als Skelett der Erzählung, die Mathematik als Lebewesen: »Es denkt, es kommuniziert. Wie sollte es nicht lebendig sein?« fragt die Sonnenintelligenz einen der Besucher am Ende des Aufenthalts.

Wer es theologischer möchte, kann die Begegnungen während der Sternenfahrt auch als eine Art verwissenschaftlichten progressiven Animismus lesen. Mancher sagt, Dath wolle zu viel und scheitere daran. Doch wer soll das, wofür ein Maßstab schwer zu finden ist, schon beurteilen können? Einen solchen Weltentwurf universeller Zusammenhänge und multipler Perspektivität muss man sich erst einmal ausdenken und zur Durchführung bringen können, ohne dass dies zum spielerischen Selbstzweck gerät.

Wer wie die Romanhelden nach etlichen Täuschungen und Verwicklungen von der Sonne zurückkehrt, bringt Wissen mit. Das ist nur zu etwas nutze, wenn es geteilt wird. »Ich habe gesehen, wie die Klügsten verblöden, weil sie ihre Klugheit für sich behalten wollten. Ich habe gesehen, wie die Schönsten immer hässlicher werden, weil sie mit ihrer Schönheit pokern und wuchern wollten.« Wer Wissen teilt, kann auch verändern. Und das wird nötig sein, um den »Knastplaneten« namens Erde zu einem erträglichen Ort zu machen.

Dietmar Dath: Der Schnitt durch die Sonne. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017, 361 Seiten, 24 Euro

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