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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 21.03.2019
Klassenkampf

Rache nehmen

»Wer hat meinen Vater umgebracht«: Édouard Louis und der Krieg gegen die Armen
Von Jakob Hayner
Fröhliche Runde, Berlin 2014

Der 1992 im Norden Frankreichs geborene Schriftsteller Édouard Louis hat nun bereits sein drittes literarisches Werk vorgelegt, welches dieser Tage in deutscher Übersetzung erschienen ist. Wie auch in »Das Ende von Eddy« (2014) und »Im Herzen der Gewalt« (2016) widmet er sich in »Wer hat meinen Vater umgebracht« einem Ausschnitt des durch die Gewalt des Sozialen geprägten eigenen Lebens. In Frankreich hat sich unter anderen mit Annie Ernaux und Didier Eribon in den letzten Jahren eine neue Art autobiographischen Schreibens etablieren können, in der individuelle Erlebnisse als gesellschaftliche Erfahrungen dargestellt werden. Das Individuum wird entmystifiziert, um dessen Abhängigkeit, Unterworfensein und Verflochtenheit in bezug auf die Gesellschaft zu zeigen. Dieser kritischen Methode bedient sich auch Louis. Er schreibt über seinen Vater als einen exemplarischen Fall, einen Menschen, dessen gesellschaftliches Schicksal mit dem zahlreicher anderer verbunden ist. Und der nicht für sich sprechen kann, der zu den »Anteil­losen« (Jacques Rancière) gehört, zu den unteren Klassen. Louis spricht für seinen Vater, mit ihm sprechen kann er nicht, wie er gesteht – ein verhindertes Zwiegespräch, ein Dialog, der nur literarisch möglich ist. Das ist nicht die schlechteste Aufgabe, die der Literatur zukommen kann. Jemandem eine Stimme zu leihen, ist eben auch eine Tugend. »Literatur muss kämpfen – für all jene, die selbst nicht kämpfen können«, sagt der junge Schriftsteller.

Sein Vater ist krank, sein Körper zerfällt. Ein Arbeitsunfall hat seine Wirbelsäule zerstört. Das Liegen und die schlechte Ernährung haben seinen Bauch kaputtgemacht. Die Lungen versagen. »Du bist gerade mal über fünfzig. Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat.« Louis beschreibt, wie die Medikamentenunterstützung unter der Regierung von Jacques Chirac gestrichen wurde. Wie die Sozialhilfe unter der Regierung von Nicolas Sarkozy, der gegen die Bezieher von Unterstützung hetzt, abgeschafft wurde, um selbst noch die Invaliden in Lohnarbeit zu drängen. Wie François Hollandes Arbeitsministerin Myriam El Khomri es Unternehmen erleichtert hat, Arbeiter zu Überstunden zu zwingen. Wie Emmanuel Macron Menschen, die sich keinen Anzug leisten können, in aller Öffentlichkeit als »fainéants« (abwertend für Faulenzer) verspottet.

Es gibt viele Weisen, einen Menschen umzubringen, schrieb Bertolt Brecht einmal. Die meisten davon sind nicht verboten. Sie bestehen aus Unterlassung. Wer hat meinen Vater umgebracht? Louis ist um eine präzise Antwort nicht verlegen, er nennt die zuvor aufgeführten Politiker Mörder in einem Krieg gegen die Armen. »Ich möchte ihre Namen in die Geschichte einschreiben, das ist meine Rache.« Rache ist auch eine Form der Gerechtigkeit, nicht die höchste vielleicht, aber der Impuls, die Täter nicht ungeschoren davonkommen zu lassen, ist wohl noch in jeder Form höherer Sittlichkeit bewahrt.

Doch das Unglück des Vaters begann schon lange bevor sein Körper durch die Plackerei in der Fabrik zerschunden war. Er hat sich in seinem Leben so viel verwehren müssen, dass er hart geworden ist – gegen sich und andere. »Du hattest kein Geld, du hast keine Ausbildung machen können, keine Reisen unternehmen, keine Träume verwirklichen können«, schreibt Louis konsequent in direkter Anrede. »Dein Leben beweist, dass wir nicht sind, was wir tun, sondern im Gegenteil sind, was wir nicht getan haben, weil die Welt oder die Gesellschaft uns daran gehindert hat.« Armut macht hart. Der Vater hat selbst zunächst nichts anderes erfahren als Mangel, Not, Gewalt, Alkohol und schwere körperliche Arbeit. Und er wollte dem entkommen, niemand ist und bleibt gerne arm. Einst war er ein junger Mann, der gerne tanzte, frisches Parfüm trug und sich auch einmal in Frauenkleidern ablichten ließ. Doch die jugendlichen Eskapaden musste er hinter sich lassen und gewöhnte sich die in seiner Lage übliche rohe Männlichkeit an, die später zu schweren Konflikten mit seinem offen schwulen Sohn führen sollten. Ist es am Ende gar die Illusion der Freiheit, die noch zur Identifikation mit den feindlichen Verhältnissen führt? »Ich glaube, du tust so, als würdest du das Glück hassen, um dich selbst glauben zu machen, dass dein Leben aus deiner eigenen Entscheidung heraus unglücklich wirkt, als hättest du dein eigenes Unglück unter Kontrolle, als sollte es so aussehen, dass du dieses allzu harte Leben selbst gewollt hast, aus Ablehnung von Genuss, aus Ekel vor der Freude.«

Literarisch bezieht sich Louis auf Peter Handkes beeindruckende Erzählung »Wunschloses Unglück« von 1972, in der dieser das Leben seiner aus armen Verhältnissen stammenden Mutter schildert. Louis’ Text ist eine geglückte Mischung aus Essay und Erzählung – klug in seinen Beobachtungen, klar in seinem ethischen Impuls, nüchtern im Stil, bestechend in seiner Konsequenz. Man brauche dieser Tage eine »konfrontative Literatur«, sagte Louis kürzlich. Das ist auch als Parteinahme in politischen Konflikten zu verstehen, Louis gehört zu den öffentlichen Fürsprechern der »gilet jaunes« (Gelbwesten). »Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken«, schreibt er. »Die Politik verändert ihr Leben nicht oder kaum. Auch das ist eigenartig: Sie bestimmen die Politik, obgleich die Politik kaum Auswirkungen auf ihr Leben hat. Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben oder Tod.« Das muss man wörtlich nehmen. Arme Menschen leben deutlich kürzer als reiche, die Differenz beträgt im statistischen Durchschnitt ungefähr ein gesamtes Lebensjahrzehnt. Eine unumstößliche, schicksalhafte Tatsache? Mitnichten. Das letzte Wort hat dann der Vater selbst, der sagt: »Was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.«

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. S. Fischer, ­Frankfurt am Main 2019, 80 Seiten, 16 Euro

Sämtliche Abbildungen dieser Beilage stammen aus dem von Ellen Röhner und Erik Steffen herausgegebenen Band:

Friedrichshain-Kreuzberg. Fotografien 1990–2018. Ungeschönt – Menschen, Bewegungen, Stadtansichten. Berlin-Story-Verlag, Berlin 2018, deutsch und englisch, 128 Seiten, 108 Illustrationen, 19,95 Euro.

Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Lesen Sie auch eine Rezension des Bandes auf Seite 11

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