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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 12.06.2019
Literatur

Grimm wie Wut

Dystopie mit dem Holzhammer: Sibylle Bergs Roman »GRM. Brainfuck«
Von René Hamann
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Werner Klemke: Goya (1971)

Es sieht übel aus, und die Politik tut nichts: Derlei hört man oft, nicht nur von rechts oder links, sondern auch aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Der Sieg der Grünen bei der Europawahl in Deutschland spricht da Bände. Youtuber Rezo hat davon geredet, dass im weiteren Verlauf des Klimawandels nicht eine Million, sondern ungefähr 450 Millionen Menschen auf der Flucht sein werden. Gute Nacht, Deutschland, heißt das übersetzt. Besuchen Sie Europa, solange es noch steht.

Großbritannien hat sich vermeintlich ins Off gerettet, so jedenfalls dürften es die »Brexiteers« sehen: weg von der alles reglementierenden EU, weg von den Migrationsproblemen. Wir sind schließlich eine Insel. Sibylle Berg zeigt in ihrem in England angesiedelten Roman »GRM« nahezu sadistisch-lüstern: Falsch gedacht! Das ehemalige Vereinigte Königreich wird mal so richtig am Arsch sein.

»Brexit«, Überwachungsstaat, Terror, Faschismus, Hyperkapitalismus: Mit Sibylle Bergs »GRM. Brainfuck« fühlt man sich wie in dem verschriftlichten Film »V wie Vendetta«, nur ohne Auflösung, ohne Hoffnung auf das erlösende Happyend. Die Guten werden nicht siegen in Bergs Britannien. Das Buch spielt zuerst im mittelenglischen Wüstenort Rochdale, dann in London –, die Guten, so sie überhaupt gut sind, sind einfach zu gefickt, von den Verhältnissen, den Umständen, den anderen.

Berg spielt mit Verve ein schönes Untergangsszenario durch, kein finales allerdings, sondern ein halbapokalyptisches. Vier Problemkinder wachsen in unmöglichen sozialen Verhältnissen am Arsch der Welt auf und finden in der Pubertät irgendwie zusammen, um nach London zu ziehen und in den Untergrund zu gehen. Das Soziale ist nur noch rudimentär vorhanden, die Reichen haben alles ausgebeutet, was zu auszubeuten war, übrig sind nur mehr Trümmer. Der Widerstand dagegen hat sich aufgelöst, die Regierung ist ins Virtuelle verschwunden, Roboter haben die Drecksarbeit übernommen, eine KI ist dabei, den Menschen vollständig zu ersetzen.

»GRM« ist Science-Fiction und lupenreine Agitprop zugleich. Und sucht in dieser Kombination seinesgleichen in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Das spricht für das Buch. Auch ist es durchaus böse, oft witzig und immer niederschmetternd erzählt. Anekdotisch, schnell, experimentell, aber auch ziemlich schwarzweiß und von vorn bis hinten alarmistisch. Literatur mit dem Dampfhammer. Die deutsche Antwort auf französische Herausforderer wie Michel Houellebecq oder Virginie Despentes. Allein, was die literarische Eleganz anbelangt, reicht Berg an sie nicht heran.

»GRM« steht einerseits für Grime – eine aggressive Spielart des UK-HipHop. Andererseits ist es als »Grimm« zu lesen. Grimm wie Wut, nicht wie die Brüder Grimm. Märchenhaft ist hier nahezu nichts, es sei denn, man denkt sich die Hexe aus »Hänsel und Gretel« als Siegerin der Geschichte.

Berg hat für diese literarische Tirade alles verwurstet, was in den letzten fünf bis zehn Jahren virulent war. Sämtliche Diskurse tauchen verschlüsselt und unverschlüsselt wieder auf, werden bis an ihr böses Ende überspitzt; skurrile, halb vergessene Nachrichten werden wahr. Die Handlung ist nahezu nebensächlich. Die Figuren – Hannah, Don, Karen und Peter – sind allesamt Opfer von Verwahrlosung und sexueller Gewalt der besonders drastischen Art, dabei nicht besonders individuell oder mit charakterlicher Tiefe gezeichnet. Sie versuchen sich spät im Roman an Subversion und Widerstand, an halbherzigen Rachefeldzügen gegen ihre Peiniger, aber auch an der Liebe, allerdings meist unglücklich.

»Das Leben der allermeisten Menschen ist Warten. Darauf, dass etwas passiert, was sie aus ihrem Warten holt, bei dem sie sich beobachten und wissen, sie werden es bereuen, ihr Leben nicht genossen zu haben. Aber wie nur? Wie genießt man das Leben, wenn nichts in einem brennt? Und wieviel kann man fernsehen. (…) Vor allem, wenn einem der Hintern weh tut vom Sitzen und Ausgehöhltwerden, von all dem Schwachsinn, den man in sich stopft, und das ist die Freiheit, die wir meinen. Die Freiheit der Selbstverwirklichung und Möglichkeiten (…) schenkt den meisten doch nur die Möglichkeit, Reichen beim Freisein zuzusehen. Den Armen steht die Freiheit theoretisch zu, sie haben nur zu wenig Geld, um sie auszuleben, die Freiheit.«

Das ist natürlich wahr, und es kann durchaus sein, das alles nur noch schlimmer wird. Andererseits könnte man meinen, dass Sibylle Berg vollends dem Kulturpessimismus verfallen ist. Im wesentlichen geht es gegen zwei Feinde : die Endgeräte (alles, was einen Bildschirm hat) und die Männer. Das ist schon ziemlich stumpf, so als Analyse. Von Medientheoretiker Marshall McLuhan (die technischen Erweiterungen sind Erweiterungen des Menschen, wir erinnern uns) oder den Macht- und Diskursanalysen der Poststrukturalisten hat Berg entweder keine Ahnung oder will einfach keine haben. Es sind noch mehr Einwände möglich: Alarmismus ist der neue Sex, der neue Hitler, er verkauft sich blendend, politisch und kommerziell; die emanzipatorischen Bewegungen hingegen erkennen ihre eigenen Fortschritte nicht oder fallen wissentlich hinter sie zurück.

»GRM. Brainfuck« ist Agitprop mit klarer Ausrichtung, leider ein wenig platt und mit über 600 Seiten viel zu lang geraten. Wer es jedoch hart braucht oder noch nicht geschnallt hat, wohin der Duracell-Hase läuft, wird gut bedient. Zur aktuellen Diskurslage passt es jedenfalls hervorragend.

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 640 Seiten, 25 Euro

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