Osteuropa und seine Geschichte
Von Ina SembdnerDer Zerfall der Sowjetunion, dessen Anfang mit der Unabhängigkeitserklärung Litauens sich im nächsten Jahr zum 30. Mal jährt, löste in den Teilrepubliken neben separatistischen Bestrebungen vor allem turbokapitalistische Entwicklungen aus. In Georgien, das sich am 9. April 1991 aus dem Unionsverband löste, wurde als erstes die von der sowjetischen Verfassung garantierte kulturelle und sprachliche Eigenständigkeit der zahlreichen Minderheiten von den an die Macht gelangten georgischen Nationalisten aufgehoben und die neue Parole »Georgien für Georgier« ausgegeben. Ein Affront für Russland war die Hinwendung zur NATO unter Micheil Saakaschwili ab 2003. Neben der Präsenz der Kriegsallianz ist Daniel Bratanovic bei seiner Reise in den Kaukasus vor allem aufgefallen, dass sich von avantgardistischer Sowjetarchitektur kaum mehr etwas finden lässt. Ganz im Gegensatz zu den heute dominierenden Repräsentationen privatkapitalistischer Macht, die in der jüngeren Vergangenheit unter anderem von Saakaschwili errichtet wurden.
In Lettland begegnete Arnold Schölzel dagegen einer unverfrorenen Geschichtsrevision, die offenbar einzig dazu dient, gegen Russland zu opponieren. Deutsche Besatzer hat es demnach kaum gegeben, aber immerhin erinnern Gedenkstätten, darunter jene im Rigaer Ghetto, an die Massaker der Faschisten unter Führung der deutschen SS. Zu spüren bekommt den Revanchismus vor allem die russische Minderheit in dem baltischen Staat, der sich mit dem offiziellen Ende der Sowjetunion am 21. August 1991 für souverän erklärte. Rund 200.000 Menschen werden wegen ihrer russischen Herkunft diskriminiert, haben keinen Pass und kein Wahlrecht. Ohnehin geht ein tiefer sozialer Riss durch das Land – es sei denn, der oder die Reisende begibt sich in die Einsamkeit jenseits der Hauptstadt.
Auch Erik Zielke hat sich in Richtung Osten aufgemacht und ist mit dem Zug ins Baltikum gereist. Sein Augenmerk galt vor allem den architektonischen Feinheiten. Während in Polens Hauptstadt Warschau der Beton – und auch immer noch der Kulturpalast aus sozialistischen Zeiten – dominiert, zeigt sich das litauische Vilnius traditionalistisch und will seine jahrhundertealte Geschichte in Reinform erhalten. Frederic Schnatterer führte seine Reise nach Siebenbürgen im Zentrum Rumäniens. Deutschen Blasorchestern und vornehmlich deutschen Reisenden ausweichend, verschlug es ihn in touristisch weniger erschlossene Gegenden im Süden der Region, die mit Kirchenburgen und kulinarischen Spezialitäten locken. Jörg Tiedjen wählte für seine Bergwanderung den »Kom–Emine« in Bulgarien, um seine Kondition herauszufordern – gewissermaßen das östliche Ende des »Jakobswegs«. Im Sozialismus errichtet, bleibt diese Zeit in Form von Monumenten am Wegesrand präsent.
Tourismus in Zeiten der Krise: So können die Artikel von Claudia Wangerin und Kerstin Kassner zusammengefasst werden. Neben einer unzureichenden Politik, die weiterhin dem Primat des Flugreisens das Wort redet, spiegeln touristische Entwicklungen vor allem gesellschaftliche Zustände wider: Wer hat, der kann (sich freikaufen). Wer nicht hat, vergeht sich auch gleich noch am Klima, denn ein für Umwelt und Urlaubsziel faires Reisen gibt es leider nicht zum fairen Preis.
Die Bilder der Beilage erzählen wiederum eine eigene Geschichte aus dem Osten Europas – aus Albanien. Sie zeigen einen Auszug aus dem noch laufenden Projekt »Il grande padre« (Der große Vater) der Fotografin Camilla de Maffei und des Journalisten Christian Elia. Mit dem Titel beziehen sie sich auf Enver Hoxha, der die albanische Partei der Arbeit seit ihrer Gründung 1941 bis zu seinem Tod 1985 als Erster Sekretär führte. De Maffei beschäftigt sich in ihren Langzeitprojekten, die sie auch nach Bosnien und Herzegowina und Rumänien führten, mit Territorien, Identitäten und Grenzen.
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