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Aus: Liebknecht-Luxemburg-Ehrung, Beilage der jW vom 11.01.2020
Repression

»Auf dem Weg in einen präventiv-autoritären Sicherheitsstaat«

Gespräch mit Rolf Gössner. Über den Entzug des Status der Gemeinnützigkeit für Vereine und politische Bildung jenseits der Parteien
Von Markus Bernhardt
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Antirassistische Demonstration gegen einen Pegida-Umzug in Dresden (6.2.2016)

In den letzten Monaten haben eine Reihe von Bundesländern ihre Polizeigesetze verschärft, die Rechte von Asylsuchenden und Migranten wurden weiter beschnitten, und etlichen Organisationen wurde der Status der Gemeinnützigkeit entzogen. Wie ist es derzeit um die Bürgerrechte in der BRD bestellt?

Grund- und Bürgerrechte sind hierzulande schon seit Jahren und Jahrzehnten deutlich unter Druck – verstärkt seit 9/11. Längst befinden wir uns auf dem Weg in einen präventiv-autoritären Sicherheitsstaat. Besonders Polizei und »Verfassungsschutz« in Bund und Ländern erlebten im Zuge einer ausufernden Sicherheits- und Antiterrorpolitik einen tiefgreifenden Strukturwandel; und sie werden unablässig nach- und aufgerüstet – besonders stark 2018/19, just in Zeiten rückläufiger Kriminalitätsraten.

Parallel zu dieser Aufrüstungspolitik erleben wir – nach Demontage des Asylgrundrechts 1993 – eine weitere Aufweichung des Asyl- und Ausländerrechts. Mit dem »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« 2019 sind die Regelungen zur Abschiebung von Geflüchteten verschärft sowie Abschiebe- und Sicherungshaft erleichtert und ausgeweitet worden – weshalb das Gesetz auch treffender »Hau-ab-Gesetz«, so die Flüchtlingsorganisation »Pro-Asyl«, heißt. Viele dieser Regelungen im Polizei-, »Verfassungsschutz«- und Asylrecht sind unverhältnismäßige Angriffe auf Grund- und Freiheitsrechte Betroffener und verletzen rechtsstaatliche Prinzipien. Und im Fall der Aberkennung des Status der Gemeinnützigkeit bei bestimmten Vereinen geht es um ein staatliches Ausbremsen kritisch-bürgerschaftlichen Engagements mit den Mitteln des Steuerrechts.

In einem Anfang 2019 veröffentlichten Urteil hat der Bundesfinanzhof dem globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC diesen Status aberkannt. Mit welcher Begründung?

Laut Bundesfinanzhof sei ATTAC nicht gemeinnützig, weil das Netzwerk mit seinen Kampagnen versuche, die politische Meinung zu beeinflussen. Zwar gelte die unter Volksbildung zu fassende politische Bildungsarbeit als gemeinnützig, nicht aber der Einsatz für allgemeinpolitische Forderungen zur Tagespolitik und auch nicht Kampagnen, die zu diesem Zweck veranstaltet werden. Die Volksbildung, so das Gericht, müsse eigenständig und in »geistiger Offenheit« betrieben werden. Das sei bei ATTAC nicht der Fall. Warum? Weil der Trägerverein ganz konkrete Lösungsvorschläge zu bestimmten allgemeinpolitischen Themen durchsetzen wolle, so etwa zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, zum »Spar-« und zum »Klimapaket« der Bundesregierung, zur Bekämpfung der Steuerflucht, zur Besteuerung von Finanztransaktionen oder zum bedingungslosen Grundeinkommen.

Dabei betonte der Bundesfinanzhof ausdrücklich, dass es nicht um die politischen Inhalte gehe, sondern um eine Grundsatzfrage: ob »allgemeinpolitische Tätigkeit« mit Gemeinnützigkeit vereinbar sei. Anders ausgedrückt: Wie politisch dürfen gemeinnützige Vereine agieren? Die Antwort des Gerichts: Zwar dürften gemeinnützige Vereine gelegentlich auch (tages)politisch aktiv sein und politische Meinungsbildung betreiben – allerdings müssten im Vordergrund die gemeinnützigen Zwecke stehen und eben nicht, wie bei ATTAC, politische Kampagnen. Mit Verweis auf diese Argumentation haben andere linkspolitisch engagierte Vereine inzwischen ihre Gemeinnützigkeit ebenfalls verloren, so etwa die Petitionsplattform »Campact«.

Welche Folgen hat das für betroffene Vereine konkret?

Der Staat fördert über Steuervorteile mittelbar solche Vereine, die die Finanzämter als gemeinnützig und damit förderwürdig anerkennen. Die Folgen einer Aberkennung der Gemeinnützigkeit sind für betroffene Vereine in aller Regel existentiell: Denn dann können Spenderinnen und Spender ihre Spenden steuerlich nicht mehr absetzen. Das bedroht die Vereine in ihrer Existenz, weil dann weit weniger an sie gespendet wird. Gemeinnützige Vereine sind auch abgabenbefreit, etwa hinsichtlich Umsatz-, Grund-, Erbschafts- und Schenkungssteuer. Wird die Gemeinnützigkeit entzogen, müssen die Vereine solche Geldleistungen, zum Teil auch rückwirkend, nachzahlen, wobei sich oft hohe Steuerschulden aufsummieren.

Beim Entzug der Gemeinnützigkeit geht es aber um mehr als um den Verlust von Steuerprivilegien: Es geht auch um den Verlust öffentlicher Fördermittel, um das Vertrauen der Spender in die Tätigkeit »ihres« Vereins und um dessen Ansehen in der Öffentlichkeit. Aus all diesen Gründen ist die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für einen Verein in aller Regel der Super-GAU und hochgradig ruinös.

Welches Signal sendet das ATTAC-Urteil eigentlich an die kritisch-engagierten Teile der Gesellschaft?

Das Urteil des Bundesfinanzhofs hat tatsächlich bedrohliche Signalwirkung: Es sorgt nicht etwa für mehr Rechtssicherheit, sondern stürzt viele aufklärerische, handlungs- und gemeinwohlorientierte Organisationen in erhebliche Verunsicherung. Letztlich führt die jetzige Situation dazu, dass einerseits mächtige Konzerne ihre Lobbyausgaben steuerlich absetzen können, nicht aber Spender ihre Zuwendungen an Organisationen der kritischen Zivilgesellschaft, sobald diese auf den demokratischen Willensbildungsprozess einwirken.

Dabei ist »politische Willensbildung des Volkes« nach dem Grundgesetz nicht etwa allein Aufgabe politischer Parteien, sondern auch der Gesellschaft insgesamt. Dass sich Menschen selbstbewusst, kritisch und mit Engagement in öffentliche Belange einmischen, wird künftig immer wichtiger, um so auch ein dringend nötiges politisches Korrektiv repräsentativer Demokratie zu schaffen. Wir brauchen bürgerschaftliche Impulse und verfassungsrechtliche Antworten etwa auf Auswüchse des globalisierten Kapitalismus mit all seinen sozialen Verwerfungen und auf die wachsende politische Entfremdung, die auch mangelnder direktdemokratischer Mitentscheidung geschuldet sein dürfte.

Neoliberale und extrem rechte Vereine haben bisher kaum Probleme durch womöglichen Entzug der Gemeinnützigkeit – weder die Bertelsmann-Stiftung mit ihrer politischen und kommerzorientierten Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft noch die der Rüstungslobby dienende »Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik«. Auch nicht der als extrem rechts geltende Verein »Uniter«, in dem sich unter anderem KSK-Soldaten zusammengeschlossen haben. Wonach wird eigentlich entschieden, welche Organisation gemeinnützig ist und welche nicht?

Angesichts der neuerlichen Aberkennungswelle reibt man sich tatsächlich die Augen, wenn man erfährt, welche Vereine schon lange und weiterhin als gemeinnützig anerkannt sind: darunter solche, die Rüstungslobbyismus betreiben, die die Privatisierung öffentlicher Aufgaben fördern und solche, die – wie Uniter e. V. – berufliche Kontaktpflege unter ehemaligen und aktiven Angehörigen bundesdeutscher Sicherheitsorgane fördern und dabei im Verdacht stehen, Teil eines rechtsextremen Netzwerks zu sein. Da fragt man sich tatsächlich, nach welchen Kriterien eigentlich die An- oder Aberkennung der Gemeinnützigkeit erfolgt. Das richtet sich nach Paragraph 52 der Abgabenordnung, abgekürzt AO, wo 25 gemeinnützige Tätigkeitsbereiche abschließend aufgezählt sind. Steuerbegünstigt ist danach eine Körperschaft, wenn sie ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgt. Die Tätigkeit muss darauf gerichtet sein, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern. Dazu zählen etwa die Förderung der Erziehung, Volks- und Berufsbildung sowie des demokratischen Staatswesens. Nicht gemeinnützig sind Vereine, die überwiegend allgemeinpolitisch tätig sind, also nicht in erster Linie gemeinnützige Zwecke verfolgen, oder Organisationen, die vom »Verfassungsschutz« als »extremistisch« eingestuft werden, so Paragraph 51 AO.

Rolf Gössner
Antirassistische ­Demonstration gegen einen Pegida-Umzug in Dresden (6.2.2016)

Interessant ist, dass nach Paragraph 52 AO zwar die Förderung von Tradition, Brauchtum, Kleingärtnerei und Hundesport, von Heimatpflege und Heimatkunde oder der Soldaten- und Reservistenbetreuung explizit als gemeinnützig anerkannt wird, nicht aber die Förderung von Menschen- und Bürgerrechten, von Frieden und Antifaschismus oder des Klimaschutzes.

Aktuell sorgt der Fall des Bundesverbandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, VVN-BdA, bundesweit für Empörung. Im November 2019 entzog das Berliner Finanzamt der antifaschistischen Traditionsorganisation die Gemeinnützigkeit. Zur Begründung bezieht es sich auf den bayerischen Verfassungsschutz, den VS, der die VVN als »linksextremistisch beeinflusst« einstuft. Nun wird diese ja schon seit Jahren im VS-Bericht Bayerns derart stigmatisiert – warum reagiert das Finanzamt dann erst jetzt?

Keine Ahnung – doch ich halte diese Entscheidung für juristisch und rechtspolitisch unhaltbar und gehe davon aus, dass sie revidiert werden muss. In Paragraph 51 AO ist zwar geregelt, dass die Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit eines Vereins – allerdings »widerlegbar« – dann als nicht erfüllt gelten, wenn die betreffende Gruppierung auch nur in einem der 17 VS-Berichte als »extremistische Organisation« aufgeführt ist. Das bedeutet: Hier findet eine Beweislastumkehr statt. Nicht das Finanzamt muss nachweisen, dass ein Verein »extremistisch« ist, sondern dieser muss seine »Verfassungstreue« nachweisen. Ein Erlass des Bundesfinanzministeriums vom 31.1.2019 stellt noch mal klar, dass eine Organisation ihre Gemeinnützigkeit verliert, sobald sie in einem VS-Bericht »ausdrücklich als extremistisch eingestuft« wird und diese »Vermutung« nicht mit dem »vollen Beweis des Gegenteils« von der Organisation widerlegt werden kann.

Die VVN-BdA und ihre Mitglieder haben bereits eine lange Geschichte der Repression, VS-Beobachtung, Berufsverbote und Diskriminierung erlebt – und das Berliner Finanzamt schreibt diese Geschichte nun fort. Erstaunlich dabei ist, dass sich ausgerechnet das Finanzamt eines »rot-rot-grün« regierten Landes auf den Verfassungsschutz eines CSU-regierten Landes stützt. Der bayerische VS stuft die VVN aufgrund bloßer »tatsächlicher Anhaltspunkte« seit Jahr und Tag als »linksextremistisch beeinflusste« – nicht als »linksextreme« – Organisation ein; eine Einstufung, die früher auch das Bundesamt sowie etliche weitere Landesbehörden für VS vorgenommen hatten, von der sie jedoch im Laufe der Jahre aus guten Gründen abgerückt sind.

Der Berliner Finanzsenator behauptete nach dem Gemeinnützigkeitsentzug, das Finanzamt habe aufgrund der Gesetzeslage »keinen Spielraum« gehabt, anders zu entscheiden …

… o doch, es geht auch anders, wie ein Beschluss des Finanzamts Oberhausen zeigt: Die Behörde entschied im Oktober 2019, dass der nordrhein-westfälische VVN-BdA-Landesverband als gemeinnützig anerkannt bleibt. Auch für das Berliner Finanzamt hätte es sehr wohl Spielraum gegeben: Denn der VS Bayern nennt die VVN nicht »extremistisch«, wie das für den Gemeinnützigkeitsentzug nötig wäre, sondern nur »linksextremistisch beeinflusst« – und im übrigen ist auch dies widerlegbar.

Inzwischen hat die VVN Einspruch gegen die Entscheidung des Finanzamts eingelegt und die existenzbedrohende Steuernachzahlung in fünfstelliger Höhe verweigert. Nachdem sich bundesweit und international breiter Protest formierte, hat das Finanzamt die Steuernachforderung wegen »unbilliger Härte« auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Soviel zum Juristischen. Wie aber schätzen Sie das Vorgehen des Berliner Finanzamtes rechtspolitisch ein? Schließlich ist eine antifaschistische Vereinigung betroffen.

Tatsächlich trifft es den ältesten und größten Zusammenschluss von Verfolgten des Naziregimes, von Überlebenden der Konzentrationslager, von Widerstandskämpfern, Antifaschisten und deren Nachkommen – einen Verein, der wichtige und anerkannte Gedenkstätten-, Erinnerungs- und Zeitzeugenarbeit leistet. Die Gemeinnützigkeit wurde ausgerechnet in einer Zeit des verstärkten Rechtstrends, rechter Gewalt und neonazistischen Terrors entzogen.

Die erfreulichen landesweiten und internationalen Reaktionen auf diesen skandalösen Vorgang reichen von Unverständnis bis Empörung. Parteipolitisch wächst der Druck ebenfalls – insbesondere von seiten der Grünen und Linken, auch aus der SPD gibt es harsche Kritik. Und derweil haben weit mehr als 1.500 Menschen aus Solidarität ihren Beitritt zur VVN erklärt. Ein klares Votum für die Gemeinnützigkeit von Antifaschismus und Antirassismus.

Wie können sich betroffene Organisationen zur Wehr setzen, und was muss passieren, damit dieses Problem generell gelöst werden kann?

Selbstverständlich können sich betroffene Vereine rechtlich und gerichtlich mit Einsprüchen und Klagen zur Wehr setzen – möglichst begleitet von einer breiten Solidaritätsbewegung. Und mitunter gibt es ja juristische Korrekturen. Aber das reicht leider nicht, wie das ATTAC-Urteil zeigt. Deshalb bedarf es politischer Initiativen, um die juristischen Grundlagen zu ändern und um endlich Rechtssicherheit zu schaffen, die durch Finanzämter und Gerichtsurteile erschüttert wurde. So muss etwa die rechtsstaatlich höchst fragwürdige Praxis beendet werden, dass bereits die Erwähnung eines Vereins im Bericht einer VS-Behörde zum automatischen Entzug der Gemeinnützigkeit führt. Solche Stigmatisierungen und Verrufserklärungen, die auf bloßen »tatsächlichen Anhaltspunkten« eines demokratisch kaum zu kontrollierenden und notorisch auf dem rechten Auge blinden Inlandsgeheimdienstes beruhen, dürfen jedenfalls nicht zu solch gravierenden Folgen führen. Außerdem müssen die Förderungszwecke ergänzt werden, etwa um Menschen- und Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit, Frieden, Antifaschismus, Klimaschutz.

Das Bundesfinanzministerium erarbeitet derzeit eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Dabei sei »vorrangiges Ziel«, die »Vereine zu schützen und ihnen weiterhin politisches Engagement zu ermöglichen«. Und man wolle »negative Auswirkungen auf den Status der Gemeinnützigkeit ausschließen«. Das klingt zunächst recht positiv. Trotzdem muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet und politischer Druck aufgebaut werden, um tatsächlich eine baldige Reform im Sinne gesellschaftspolitisch-demokratischen Engagements sowie von Rechtssicherheit zu erreichen. Eine solche politische Willensbildungsarbeit wäre doch wirklich gemeinnützig.

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), außerdem Mitherausgeber des jährlich erscheinenden »Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland« (Fischer-TB) sowie Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Rolf Gössner schrieb und edierte zahlreiche Bücher zum Themenbereich Demokratie, innere Sicherheit und Bürgerrechte. Ausgezeichnet wurde er bereits mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik sowie dem Kultur- und Friedenspreis des Bremer Vereins »Freunde und Förderer der Villa Ichon«.

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Leserbriefe zu diesem Artikel:

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