Die Köpfe rollen, das Wetter ist schön
Von Peter KöhlerGeboren im Mai 1968, hat der Franzose Éric Vuillard den Geist der Revolte gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Als Schriftsteller, der einen scharfen Blick für den Antagonismus von Regierung und Regierten, Reichen und Armen, Unterdrückung und Widerstand hat, widmet er sich vorzugsweise den Wendepunkten der Geschichte wie der Französischen Revolution (»14. Juli«) und den tragischen Weichenstellungen wie der Eroberung des amerikanischen Westens durch die Weißen (»Traurigkeit der Erde. Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody«) oder der Berliner Afrikakonferenz 1884 (»Kongo«). Seine Sympathie liegt bei den Eroberten, Unterworfenen und Geknechteten, und sein Zorn, wenn jede Hoffnung zunichte gemacht wird, ist auch in seiner jüngsten Erzählung spürbar, in deren Mittelpunkt Thomas Müntzer steht.
Die Saat, die den Kirchenmann später zum Aufrührer macht, legen die Herrschenden in seiner Kindheit, als sie Müntzers Vater hängen. Das geistige Rüstzeug, das den Heranwachsenden allgemein in Opposition zur Welt und dann in konkreten Widerspruch zu den real existierenden Verhältnissen bringt, muss in einer Zeit, in der die Religion alle Verhältnisse durchtränkt, die Bibel sein: der alttestamentliche Prophet Daniel etwa, der dem König von Babylon den Untergang weissagt.
Vor allem ist es ein radikal gegen die herrschende – nämlich die von der alten Kirche betriebene und den Fürsten zugute kommende – Auslegung gelesenes Neues Testament, das den Theologiestudenten, dann reformatorischen Prediger und schließlich Revolutionär bewegt: Der Geist, zeitgenössisch verstanden der Heilige Geist, kann auf jeden Menschen herniedergehen und ruft ihn, wie schon Christus, zur Umwälzung der Gesellschaft und zur Errichtung eines gerechten Gottesreiches, und das schon auf Erden.
Vuillard zeigt, wie ein Mensch aus einem anfänglich mehr gefühlten als verstandenen Missverhältnis zur bedrückenden Wirklichkeit heraus nach Befreiung sucht, erst Trost und bald Erkenntnis in Lektüre und Studium findet, dann erkennen muss, dass die schöne Theorie der Praxis bedarf, und deshalb für die Bauern und »die Arbeiter, die Handwerker, eine ganze ungebildete Bevölkerung, sogar die Bürger« Verbesserungen fordert. Aber das reicht noch nicht: »In Mühlhausen bemühte sich Müntzer um Reformen; doch der Aufstand mündete in eine kleinkarierte Sozialdemokratie« – pardon: bei Vuillard steht natürlich richtig »Handwerkerdemokratie«.
Müntzer will deshalb die Gesellschaft von Grund auf umkrempeln, und als Fürsten und Patrizier sich von Grund auf verweigern, muss er zum Umsturz aufrufen: »Vor Herzog Johann, dem Erbprinzen, vor dem Vogt Zeiss, dem Bürgermeister und dem Allstedter Rat, nach den Schwertern, nach Nebukadnezar und dem Zorn Gottes spricht Müntzer: Man soll die gottlosen Regenten töten.«
Thomas Müntzer ist gescheitert wie vor ihm Jan Hus und die böhmischen Taboriten, wie schon John Wyclif und jene aufständischen englischen Bauern, deren Geschichte Éric Vuillard mit der des deutschen Bauernkrieges parallelisiert. Der Verrat der deutschen Fürsten am gemeinen Volk 1525 hat fast 150 Jahre zuvor, 1381, ein Vorspiel in der Heimtücke der englischen Regenten: Der eine Anführer der Peasants’ Revolt, Wat Tyler, wird bei den Unterhandlungen mit dem König und dem Bürgermeister von London gemeuchelt, der andere, John Ball, unter der Aufsicht von Richard II. »ausgeweidet und gevierteilt«. Thomas Müntzer wiederum stirbt nach der Niederlage des Bauernheeres bei Frankenhausen auf dem Schafott.
Vuillard ist kein Geschichtsschreiber und seine Erzählung keine historische Abhandlung. Zum einen erlaubt sein poetischer Stil ihm eine zuweilen wie träumerische Darstellung, die gegenüber einer strikt sachlichen Bearbeitung einen literarischen, sinnlichen Mehrwert liefert. »Plötzlich schlich sich der Geist in die Häuser«, heißt es über den Einzug der Reformation in Böhmen, wohin Müntzer im Anschluss an seine erste Station in Zwickau ausweicht. Oder über den Aufstand in London: »Wütend zerren die Bauern die Richter aus den Betten, schleifen sie auf den Marktplatz und köpfen sie. Das Wetter ist schön.« Und so wähnen die englischen Rebellen die Natur auf ihrer Seite, als sie sich mit den Herren zur Verhandlung treffen: »Die Sonne öffnet die Gesichter.«
Zum anderen mögen nicht alle Fakten punktgenau stimmen. Dass etwa Müntzers Vater tatsächlich auf Betreiben des Stolberger Grafen hingerichtet wurde, ist Fiktion oder mindestens Spekulation, nämlich eine mit der städtischen Ketzerrevolte von 1498 – die Vuillard allerdings nicht erwähnt. Es geht ihm nicht um trockenes Runterrasseln von Fakten, sondern darum, den Geist der Revolte lebendig zu halten. Der war in Deutschland nach der Niederlage der Bauern rund 300 Jahre tot – nicht zuletzt wegen Müntzers theologischem Gegenspieler Martin Luther, der die Unterwerfung unter die Obrigkeit predigte.
Genau besehen, ist Luther ebenfalls gescheitert, sogar theologisch, indem er die Unterordnung unter Rom gegen den Gehorsam unter das von den Fürsten eingerichtete Kirchenregiment eintauschte. Nur folgerichtig also, dass der Reformator Luther angepasste, staatstreue Untertanen anspricht und alle anderen langweilt. Der Revolutionär Müntzer dagegen redete, so Vuillard, »von einer Welt ohne Privilegien, ohne Besitz, ohne Staat« und spricht bis heute aufmüpfige Geister an.
Éric Vuillard: Der Krieg der Armen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin 2020, Matthes & Seitz, 68 Seiten, 16 Euro
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