Im üblichen Rahmen
Von Gerd BedszentKann ein Mann, der schon seit 86 Jahren tot ist, vor Gericht ein Plädoyer halten? In der Literatur schon. Zumal dann, wenn es durchaus richtig ist, dem Betreffenden zumindest posthum den Prozess zu machen.
Die Rede ist hier von Engelbert Dollfuß, österreichischer Bundeskanzler von 1932 bis 1934. Der christlich-soziale Politiker ist sowohl verantwortlich für die schrittweise Umwandlung der Republik Österreich hin zu einer faschistischen Diktatur als auch für die blutige Niederschlagung des Aufstandes vom Februar 1934, in dem Teile der österreichischen Arbeiterschaft sich gegen diese Entwicklung aufgelehnt hatten. Dennoch galt Dollfuß im politischen Mainstream des nach 1945 wieder eigenständigen Österreichs lange Zeit als Märtyrer. Denn der Begründer des Austrofaschismus wurde im Juli 1934 Opfer eines Putschversuches militanter Nazis, denen die politische Anlehnung des Landes an das Italien Benito Mussolinis nicht behagte und die einen Anschluss an das »Großdeutsche Reich« gewaltsam durchsetzen wollten.
In seinem Buch »Plädoyer eines Märtyrers« legt der Autors Peter Veran eine fiktive Verteidigungsrede des früheren Kanzlers vor. Angeklagt wird der wegen schwerster Delikte: Verfassungsbruch, Mord, Hochverrat, Landfriedensbruch, Terrorismus, Nötigung, räuberischer Diebstahl, Korruption … Verstand sich Dollfuß als Mörder und Faschist? Natürlich nicht: Das seien alles nur Verleumdungen linksliberaler Zeitungsschmierer, die sich unterstanden hätten, nach 1945 in geheimen Regierungsakten herumzuschnüffeln. Bei dem austrofaschistischen Ständestaat habe es sich nur um ein Notstandsprojekt gehandelt. Sozialdemokratische Politiker seien lediglich verhaftet und verprügelt worden, nicht aber massenhaft umgebracht. Im Vergleich mit dem, was Hitler zeitgleich im Nachbarland angestellt habe, sei das alles doch noch bürgerlich und sogar fast rechtsstaatlich gewesen. Vollstreckte Todesurteile gegen Anführer der aufständischen Arbeiter? Das hätten die sich doch selbst zuzuschreiben gehabt …
Peter Veran – von Hause aus Jurist und Historiker, er ist Autor mehrerer historischer Sachbücher – liefert in Gestalt von Dollfuss ein entlarvendes Psychogramm im Grunde konservativer Politiker mit ihrem Hang zu autoritären Lösungen. Der Austrofaschismus bedurfte eben keines Straßenterrors, um die traditionellen Parteien von der Macht zu vertreiben – er entwickelte sich im Rahmen des ganz normalen Politikbetriebes. Österreich war damals kein Einzelfall: Nicht wenige der später von Hitler und Mussolini besetzten Staaten waren keineswegs demokratische Musterländer, sondern diktatorisch regiert worden. Der Konflikt zwischen Dollfuß bzw. seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg und der Nazipartei war mehr taktischer Natur. Der im Jahre 1938 von Hitler militärisch erzwungene »Anschluss« Österreichs an Deutschland wurde von einem Großteil der Bevölkerung des Alpenstaates bejubelt; der Anteil gebürtiger Österreicher in der Funktionärsriege des gewaltsam vergrößerten Deutschen Reiches war überproportional hoch.
Verans Buch liefert nicht nur zahlreiche wenig bekannte Einzelheiten aus diesem Abschnitt der Geschichte Österreichs. Mit seiner gekonnten Schilderung der grausamen Komik einer zutiefst bürgerlichen Faschisierung hat der Autor auch ein bemerkenswertes Stück antifaschistischer Literatur vorgelegt.
Peter Veran: Plädoyer eines Märtyrers. Eine Groteske. Promedia-Verlag, Wien 2020, 174 Seiten, 17,90 Euro
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