Behinderung und Kapitalismus
Von Michael ZanderPapier ist bekanntlich geduldig, das von Parteiprogrammen zumal. Beim Blick in das Programm von Die Linke fällt auf, dass der zentrale Abschnitt zur Behindertenpolitik hauptsächlich Schlagworte enthält. »Teilhabe am gesellschaftlichen Leben«, »Nachteilsausgleiche« und »Selbstvertretung« sind sicher nicht falsch, aber doch ungenügend. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (…), Inklusion und Solidarität.« Inhalt lässt sich durch bombastische Substantive nicht ersetzen. Im Programm der Grünen steht in etwa dasselbe, nur prägnanter formuliert.
Von der Linken würde man erwarten, dass sie auch hier den Kapitalismus thematisiert und sich damit von allen anderen Parteien unterscheidet. Eine Vorstellung davon, was Behinderung mit Kapitalismus zu tun hat, vermitteln Stellungnahmen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). So heißt es in der von der BDA mitunterzeichneten Erklärung »Inklusion gelingt!«: »Behindert bedeutet nicht automatisch leistungsgemindert.« Die »Fachkräftesicherung« mache berufliche Integration notwendig, außerdem seien »Menschen mit Handicaps oft besonders motiviert«. Ein Dorn im Auge sind der BDA »gut gemeinte Sonderregelungen«, insbesondere der Kündigungsschutz, der »Personalanpassungsmaßnahmen« erschwere. Den »Inklusionspreis« der BDA erhielt 2019 unter anderem das Versandunternehmen Zalando. Prämiert wurde die Absicht der Firma, die Quote behinderter Beschäftigter auf die ohnehin gesetzlich vorgesehenen fünf Prozent erhöhen zu wollen. Zalando steht seit längerem in der Kritik wegen geringer Löhne und der rigiden elektronischen Überwachung der Arbeitenden.
Und außerhalb des Produktionsbereichs? »Mehr Subsidiarität wagen«, lautet die BDA-Parole. Die »Belastung der Arbeitgeber mit Sozialbeiträgen« dürfe »nicht noch weiter steigen«, deshalb brauche es »Reformen« bei der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Mit einer Vorversion des Intensivpflegegesetzes (IPReG) aus dem Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) zeigte sich die BDA indes recht zufrieden. Nach Protesten von Behindertenrechtsorganisationen hatte der Bundestag Anfang Juli eine entschärfte Fassung beschlossen. Versicherte, die auf Beatmung angewiesen sind, müssen allerdings nach wie vor befürchten, aufgrund der neuen Regelungen die eigene Wohnung verlassen und in eine stationäre Einrichtung umziehen zu müssen. Daran stört sich die BDA nicht. Sie verlangt mehr Kontrolle der Rehabilitationsleistungen durch die Krankenkassen.
Es ist nicht überraschend: Als Kapitalvertreterin interessiert sich die BDA einerseits für die Verwertung der Arbeitskraft behinderter Beschäftigter, andererseits sollen ihre Mitglieder von ihrem privaten Profit möglichst wenig für gesellschaftliche Zwecke hergeben müssen. Den Reichtum haben die Beschäftigten und ihre Angehörigen erarbeitet. Die Kritik an der privaten Verfügung über Profit gehört zu den wichtigsten Aufgaben linker Parteien.
In dieser Beilage schreibt Florian Grams über die umstrittenen Empfehlungen zur Triage in Zeiten der Coronapandemie, Hannelore Witkofski reflektiert über Anliegen und Errungenschaften der Behindertenbewegung, Frieder Kurbjeweit berichtet von einem wilden Streik in einer Behindertenwerkstatt, und Achim Kessler schildert die besonderen Belastungen chronisch kranker Menschen. Niklas Altermark und Matilda Svensson Chowdhury zeigen, wie die einst fortschrittliche schwedische Behindertenpolitik geschleift wird. Mit Leben und Werk von Antonio Gramsci beschäftigt sich Udo Sierck. In einer Erzählung lässt Erwin Riess seine Hauptfiguren – Herrn Groll und den Dozenten – über die »Schurkerei« der »Damen und Herren des Sozialstaats« philosophieren.
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