Mit der Nase drauf gestoßen
Von Arnold SchölzelEr sei, schrieb Engels 1885, mehr als 40 Jahre zuvor »in Manchester mit der Nase darauf gestoßen worden, dass die ökonomischen Tatsachen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder nur eine verachtete Rolle spielen, wenigstens in der modernen Welt eine entscheidende geschichtliche Macht sind.« Karl Marx sei nicht nur »zu derselben Ansicht gekommen«, sondern habe sie »dahin verallgemeinert, dass überhaupt nicht der Staat die bürgerliche Gesellschaft, sondern die bürgerliche Gesellschaft den Staat bedingt und regelt, dass also die Politik und ihre Geschichte aus den ökonomischen Verhältnissen und ihrer Entwicklung zu erklären ist, nicht umgekehrt.« Als er Marx 1844 in Paris besucht habe, hätten sie ihre »vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten« festgestellt, »von da an« habe ihre gemeinsame Arbeit »datiert«.
Texte über die eigene Biographie hielten beide für überflüssig. Von Engels gibt es höchstens solche wie den zitierten oder einen wie den »eigenhändigen Lebenslauf«, den er 1890 für das Jenaer »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« verfasste – eine dürre Aufzählung von Daten.
Der Grund für dieses lässige Verhältnis zu sich selbst: Es ging um eine grundsätzliche Frage. Formuliert hat sie Engels in einem Brief, den er an seinem 71. Geburtstag an den Sängerverein des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London aufsetzte. Er hatte erst an jenem 28. November 1891 erfahren, dass der Chor beabsichtigte, ihm abends ein Ständchen darzubringen. Engels dankte höflich den »werten Genossen«, leider aber sei er am Abend nicht zu Hause, und fügte an: »Sowohl Marx wie ich sind von jeher gegen alle öffentlichen Demonstrationen gewesen, die sich an einzelne Personen knüpfen, es sei denn, im Fall ein großer Zweck dadurch erreicht werden kann; und am allermeisten gegen solche Demonstrationen, die sich zu unseren Lebzeiten um unsre eignen Personen drehen würden.«
Also kein Ständchen zum 200.? Engels hat immerhin zwei Ausnahmen zugelassen. Der große Zweck, lässt sich sagen, steckt in seinen Werken. Dass sie heute zum geistigen Weltkulturerbe gehören, daran haben Sowjetunion und DDR den größten Anteil. Ohne sie gäbe es weder »die blauen Bände«, die als MEW abgekürzten Marx-Engels-Werke, noch die zweite Marx-Engels-Ausgabe. Es war nicht selbstverständlich, dass sie nach dem Ende des europäischen realen Sozialismus weitergeführt wurde, das geschah hierzulande zähneknirschend und auf internationalen Druck hin. Wer Engels ehrt, ehrt auch die editorischen Großtaten und bezeugt Achtung vor dem Inhalt seiner Schriften. Der war allerdings umwälzend und hat von seiner argumentativen Durchschlagskraft nichts verloren.
Engels fasste das 1885 so zusammen: »Diese die Geschichtswissenschaft umwälzende Entdeckung, die, wie man sieht, wesentlich das Werk von Marx ist und an der ich mir nur einen sehr geringen Anteil zuschreiben kann, war aber von unmittelbarer Wichtigkeit für die gleichzeitige Arbeiterbewegung.« Das war einerseits zu bescheiden, andererseits war das für beide Wichtigste genannt: Die moderne Arbeiterbewegung ist ohne sie unvorstellbar. Das gilt auch fürs 21. Jahrhundert und die wissenschaftlich-technische Revolution, welche die soziale Frage erneut auf die Tagesordnung stellt.
Engels war wie Marx einer der bedeutendsten Gelehrten und Politiker seiner Zeit. Das hatte selbstverständlich mit seiner Persönlichkeit zu tun. Der DDR-Historiker Manfred Kliem beschrieb ihn als »eine der blutvollsten und sympathischsten Führergestalten des internationalen Sozialismus«. Engels opferte 20 Lebensjahre dem »hündischen Commerce« und stellte das Schreiben größerer Abhandlungen hintan. Er hat auch dafür mehr als nur ein Ständchen verdient.
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