Kein Halt mehr
Von Arnold SchölzelDas Datum 4. August 1914 sagt vielen noch etwas: Die SPD-Reichstagsfraktion stimmte den Kriegskrediten zu und unterstützte den imperialistischen Krieg, der zum Weltkrieg wurde.
Im Kampf gegen den vom deutschen Faschismus angezettelten Zweiten Weltkrieg näherten sich die von der Kriegsgegnerin Rosa Luxemburg mitbegründete KPD und die SPD an. Die Führung der westdeutschen Sozialdemokratie wollte davon nach 1945 nichts mehr wissen. Der marxistische Philosoph Robert Steigerwald (1925–2016) berichtete, er sei 1945 in die SPD ein- und 1948 wieder aus ihr ausgetreten, als ihm – er war Vorsitzender der hessischen Jungsozialisten – der Parteivorsitzende Kurt Schumacher auf eine entsprechende Frage geantwortet hatte, selbstverständlich werde es Krieg geben, und »wir« würden dann an der Seite der Westmächte gegen die Russen stehen.
Bei dieser Konstellation blieb es. Wer den nominellen Sozialdemokraten und deutschen Außenminister Heiko Maas über Russland reden hört, hört Schumacher 1948. Und wenn 2021 der Linke-Politiker Matthias Höhn über Sicherheitspolitik schreibt, spielt er die Melodie der Äquidistanz so verlogen wie einst deren Verfechter zu Zeiten des NATO-Doppelbeschisses. Ertönt diese Weise, sind die Raketen gegen Russland und China schon stationiert.
1913 klang es ähnlich. Am 1. Juli 1913 schrieben die Berliner Neuesten Nachrichten: »Unser europäisches Kleid ist uns allzu eng geworden. Mögen die Männer, die unsere Geschicke leiten, Sorge tragen, dass Deutschland den Platz an der Sonne erhält, den es beanspruchen darf und muss.« Das Blatt der Schwerindustrie war zufrieden: Am Tag zuvor hatte die SPD-Fraktion der Finanzierung einer zuvor von ihr abgelehnten Heeresvorlage ihre Stimme gegeben. Der Grundsatz »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!« galt nicht mehr. 37 SPD-Abgeordnete hatten sich gesträubt, beugten sich aber der Fraktionsdisziplin. »Gründe« hatte ihre Führung selbstverständlich: Das Parteiprogramm sehe doch vor, indirekte durch direkte Steuern abzulösen.
Auf dem Jenaer Parteitag im September 1913 rief Rosa Luxemburg Scheidemann und Co. zu: »Wenn Sie sich nun auf den Boden des Mehrheitsbeschlusses unserer Fraktion stellen, dann kommen Sie in die Lage, wenn der Krieg ausbricht und wir an dieser Tatsache nichts mehr ändern können und wenn dann die Frage kommt, ob die Kosten durch indirekte oder direkte Steuern zu decken sind, dass Sie dann folgerichtig für die Bewilligung der Kriegskosten eintreten.« Das sei eine schiefe Ebene, »auf der es kein Halt mehr gibt«.
Um einen 4. August richtig vorherzusagen, bedarf es besonderer Fähigkeiten, sehr viel theoretischer und noch mehr politischer Klarheit. Rosa Luxemburg war mit ihrer Vorhersage einzigartig in der Sozialistischen Internationale.
Geblieben ist die »schiefe Ebene« imperialistischer Kriegspolitik. Wer sie als vermeintlicher Sozialist betritt, hat keinen Halt mehr.
Am 27. Mai 1913 hielt Rosa Luxemburg im Saalbau »Felsenkeller« in Leipzig-Plagwitz eine berühmt gewordene Rede über »Die weltpolitische Lage«. Darin formulierte sie: »Solange das Kapital herrscht, werden Rüstungen und Krieg nicht aufhören.« Aus Anlass ihres 150. Geburtstages wird im »Felsenkeller« am Freitag, dem 5. März 2021, um 12.30 Uhr ein »Denkzeichen« eingeweiht. Im Januar wurde dort bereits die Rosa-Luxemburg-Bibliothek eröffnet.
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