Willkommen auf dem Markt
Von Susanne KnütterDie Hand ballt sich bei Sätzen wie diesem zur Faust: »Als ausgebildete Fachkraft hast du richtig gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, du bist das reife Obst, das eine weite Reise hinter sich hat, genau die richtige Reife, für die man auch mal ein bisschen mehr bezahlt, weil man weiß, dass es ein Topeinkauf wird.« Unter dem Hashtag »#Azubi21« sollen Jugendliche die Vorteile einer dualen Ausbildung »checken«. Im Rahmen des Aktionsprogramms »Sommer der Berufsbildung« von Bund, Ländern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften werben die Industrie- und Handelskammern auf geradezu obszöne Weise um Nachwuchs.
Denn die Sorge um den Fachkräftemangel ist mal wieder groß. Laut der aktuellen DIHK-Konjunkturumfrage haben 43 Prozent der Unternehmen den »Fachkräftemangel als Geschäftsrisiko« ausgemacht. Selber ausbilden wollen allerdings nur wenige: Nur 20 Prozent der Betriebe können das nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes überhaupt von sich behaupten.
Hinzu kommt eine weitere Auffälligkeit: Auch in diesem Jahr meldete die Bundesagentur für Arbeit wieder mehr freie Ausbildungsstellen als Bewerber – und am Ende blieben dennoch 158.000 Interessenten »unversorgt«. Die Vorstellungen der Firmen und Bewerber würden nicht so recht zusammenpassen, heißt es zur Begründung. Auch die Abbrecherquote sei darauf und auf eine fachliche Überforderung zurückzuführen. Laut dem aktuellen Nachwuchsbarometer der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Körber-Stiftung wird jede fünfte Ausbildung in den sogenannten MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) vorzeitig abgebrochen. Im vergangenen Jahr sind demnach mit insgesamt 160.000 MINT-Ausbildungsverträgen rund 21.000 weniger abgeschlossen worden als 2019. Ein Viertel des Rückgangs wird auf die Coronapandemie zurückgeführt.
Grund für die »Überforderung«, heißt es, sei die mangelnde Vorbereitung schon in der Grundschule. Die Kompetenzen der deutschen Grundschulkinder seien im EU- und OECD-Vergleich mittlerweile unterdurchschnittlich. Rund ein Viertel der Kinder erreiche nicht die für weiterführende Schulen erforderlichen mathematischen Kompetenzen. Bei den im Sachkundeunterricht der Grundschulen vermittelten Naturwissenschaften habe sich das lange bekannte Problem seit 2015 sogar weiter verschärft. Hier zeigt sich ein struktureller Fehler im System, den am Ende Schüler und Absolventen ausbaden müssen.
Und noch etwas wird in der Debatte um eine »fehlende Passung« von Ausbildungsstellen und Bewerbern bzw. Azubis kaum thematisiert: die Qualität der Ausbildung und die Arbeitsbedingungen im künftigen Job. Selbst in Berufen, wo tatsächlich ein Fachkräftemangel – und nicht nur eine für das Kapital zu kleine Auswahl an Bewerbern – herrscht, werden dessen Ursachen nicht behoben. Die Beiträge zur Ausbildungssituation in der Pflege und der Seewirtschaft in dieser Beilage verdeutlichen das exemplarisch.
Damit nicht genug. Die Pandemie und die politischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung haben die Situation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch weiter verschlechtert. Die Leistungsunterschiede zwischen Schülern haben zugenommen, die Unsicherheit aufgrund von Perspektivlosigkeit ist gewachsen, mehr Jugendliche leiden an psychischen Problemen. Und von allem sind arme Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in besonderem Maße betroffen. Die Beiträge zum Homeschooling, zu den Kindergärten in der Pandemie und dem »Endlos-Homeoffice« von Studenten widmen sich diesem Problemkreis.
Dass der Kampf gegen die Zumutungen des Kapitalismus erfolgreich sein kann und doch nie zu Ende ist, solange es den Kapitalismus und die Klassengesellschaft gibt, zeigt der Beitrag zur Lehrlingsbewegung. Die Proteste der Schüler im Coronajahr wertet der erste Artikel der Beilage aus. Bitte umblättern.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Inland
-
Explosion in Chemiewerk
vom 28.07.2021 -
Im Fadenkreuz
vom 28.07.2021 -
Scheitern mit Vorsatz
vom 28.07.2021 -
Gefeuert wegen Schnelltests
vom 28.07.2021 -
Streik abgesagt
vom 28.07.2021 -
»Zivilgesellschaftliche Gegenwehr ist minimal«
vom 28.07.2021