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Aus: Literatur - Frankfurter Buchmesse, Beilage der jW vom 20.10.2021
Science Fiction

Eine notwendige Zumutung

Mathematik ist machen, verändern. Dietmar Daths »Gentzen oder: Betrunken aufräumen«
Von Daniel Bratanovic
Höhensonne
Die Abbildungen dieser Beilage stammen aus dem Band »›… und wundere mich, dass ich noch lebe‹ – Briefe und ­Burlesken von Albert Schaefer-Ast«, herausgegeben von John Buck. Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Eulenspiegel-Verlags.

Einer ist, eben noch da, plötzlich fort, spurlos verschwunden, in Luft aufgelöst, als hätte er nie existiert. Wer war er, warum verschwand er? Was hat sein Verschwinden mit einem deutschen Mathematiker zu tun, der im August 1945 in einem Prager Gefängnis verhungerte? Und was mit einem scheinbar unerklärlichen namenlosen Vorgang, der wenige Jahre später, in – von unserer Gegenwart aus betrachtet – naher Zukunft geradezu apokalyptische Ausmaße annehmen soll?

Der Fall beschäftigt drei Freunde, eine Biologin, einen Programmierer und einen, der so heißt wie der Autor des Buchs, der und das sich selbst reflektieren – vorgestellt als unfertige Idee. Die Ermittlungsarbeit der drei Detektive läuft anders, ist Wissenschaftsarbeit, auch sie werden nicht fertig. Woran hat der Verschwundene gearbeitet? Es muss etwas Entsetzliches, vielleicht Schönes, jedenfalls kaum Auszusprechendes gewesen sein: »Es gibt Wahrheiten, die sind so eisig, dass der Verstand an ihnen zerreißt wie biologisches Gewebe, das einen allzu kühlen Gegenstand berührt: extrem schnelle Nekrose; man kommt kaum zum Blinzeln.« Was wollte er? Die Verlassene, die einzige, die sich seiner Existenz erinnert, sagt: »Was aufgeht, ist weg, man braucht es nicht mehr. Er wollte aufgehen in seiner Idee, aber dass er weg ist, bedeutet, dass er fehlt.« Eine neue Biologie wollte er, neues Leben, geschrieben als Programm, nicht für Rechner, sondern für wirkliche Lebewesen, synthetische Biologie.

Geschrieben als Programm? Gerhard Gentzen, das ist der Mathematiker, der in Gefangenschaft den Hungertod starb, weil er das hässliche Kriegs- und Vernichtungsprogramm seiner faschistischen Landsleute, die bloß Scheiße im Kopf hatten, vermutlich nur in der trügerischen Hoffnung mitgespielt hatte, so seinen Forschungen ungestört nachgehen zu können, dieser Gentzen also, der tragisch endete, schuf eine verbesserte Beweistheorie, die letztlich zu Verfahren führte, mit denen man heute prüft, ob ein Computerprogramm etwas taugt. Heute? »Menschen, die Programme schreiben, sind meist abhängig Beschäftigte. Diejenigen, die sie beauftragen, sind das oft nicht. Wenn letztere Unfug bestellen, rettet uns keine Logik vor dem Resultat.« Schreiben wir das richtige Programm? Wie hängt das alles zusammen – die neue Biologie, Gentzens Widerspruchsfreiheitsbeweistheorien, die betrübliche Feststellung, dass die Algorithmen unserer Tage bloß der allerblödesten Zwecksetzung dienen, nämlich Daten sammeln, um Profit zu generieren?

Ist das jetzt ein Buch über Gerhard Gentzen? Ja. Nein. Auch. Nicht im herkömmlichen, erwartbaren Sinne. Er ist in diesem »Kalkülroman«, wie es in einer selbstreflexiven Passage heißt, »nicht mal ganz Vorschein, sondern nur Funke oder Aura pur … fading, failing«; bleibt geisterhaft, erklärt, erörtert, diskutiert dergestalt mit Lady Gaga Widerspruchsbeweise und hinterließ, wer weiß, unbekannte Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, in Prag verschollene Papiere, mit denen sich etwas anfangen ließe. Eine Gruppe mit dem erbaulichen Namen Internationale sucht danach. Sie kämpft gegen etwas, was im Buch die »zweite Zerstörung der Vernunft« genannt wird, eine die, wo die erste nur Zerstörung im Überbau war und im wahnsinnig gewordenen Gesellschaftsdenken kulminierte, die naturwissenschaftliche Forschung selbst zerstört.

Man ahnt, ja weiß dann vielmehr, dass eine Bewegung, wenn sie mit dem perennierenden, zerstörerischen Schwachsinn unserer Tage ernsthaft Schluss machen will, sich schleunigst die Voraussetzungen des ganzen Tag für Tag wie selbstverständlich genutzten, aber kaum je reflektierten Computerzeugs draufschaffen sollte, seine Sprache, seine Logik, seine Schlüsse, seine Mathematik. Davon, aber bei weitem nicht nur, handelt diese tausendsträngige moralische Erzählung, die ganz und gar bei Sinnen ist und noch lange nicht auserzählt. Sie ist eine Zumutung, aber eine notwendige. »Zukunft ist zergliederbar, steht Analysen offen, man kann damit spielen.« Mathematik lädt zum Sprung vom Tatsächlichen ins Mögliche ein, Mathe ist machen, verändern. So auch die revolutionäre Praxis. Diese wird ohne jene vermutlich nicht mehr auskommen.

Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman. Matthes und Seitz, Berlin 2021, 604 Seiten, 18,99 Euro

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