Ohne Gewissensbisse
Von Juan S. GuseEs wäre naheliegend gewesen, eine Zeitungsbeilage zur Leipziger Buchmesse mit einem Aufmacher über deren Absage und die bekannten ökonomischen Verwertungszwänge des Literaturbetriebs zu beginnen. Statt dessen möchte ich mit etwas anderem einsteigen: den vielfältigen Weisen des Stehlens von Büchern.
Zuletzt geisterten gleich zwei Bücherdiebe durch die Medien, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Urban und Bernardini. Bei Herrn Urban handelte es sich um eine mysteriöse Gestalt, die jahrelang mit auffällig großem Mantel in deutschen Buchhandlungen auftauchte und dort Bücher mitgehen ließ (vorzugsweise von Diogenes) und diese dann später gegen Bargeld wieder umzutauschen versuchte. Relativ plumpe Kleinkriminalität also.
Interessanter ist da der Fall des Filippo Bernardini, der die US-amerikanische Verlagswelt fünf Jahre lang in Atem hielt, indem er sich mit gefälschter Identität Zugang zu unveröffentlichten Manuskripten verschaffte. Er erstellte hierfür Websites, die genauso aussahen wie die großer US-Verlagshäuser, und kontaktierte über deren Domains Literaturagenturen, um sich Manuskripte bekannter Autorinnen und Autoren schicken zu lassen. Nach heutigem Erkenntnisstand wollte er mit seinem Phishing-Angriff weder Erpressungsgeld eintreiben noch die Texte irgendwo versteigern. Er wollte etwas viel Unwahrscheinlicheres: Er wollte sie einfach nur lesen.
Die Fälle stehen für zwei Typen. Da sind die, die im Buch vor allem dessen Tauschwert sehen und ein paar Kröten auf Momox machen wollen. Und dann eben diejenigen, die ein persönliches Interesse an der Lektüre des Buches haben, das sie mitgehen lassen; dass sie wenig Geld haben, mithin geizig sind oder sich für ihre Tat schämen, kommt bisweilen hinzu.
Auch wenn Bernardini ein Sonderfall ist, würde ich doch sagen, dass die meisten Bücherdiebe, die ich kenne, ähnlich gestrickt sind wie er. Ich selbst habe immer wegen des Gebrauchswerts und nie wegen des Tauschwertes geklaut. In dieser Hinsicht sind Bücher, wie es Roberto Bolaño formuliert, ein ideales Ziel: »Das Gute am Diebstahl von Büchern ist, dass du – anders als bei Tresoren – die Möglichkeit hast, ihren Inhalt sorgfältig zu untersuchen, bevor du entscheidest, das Verbrechen zu begehen.«
Für Bolaño gehörte Bücherdiebstahl zur literarischen Ausbildung. In der Fernsehsendung »Off the record« erzählte der chilenische Autor einmal, wie er als Heranwachsender vormittags regelmäßig Bücher stahl, statt in die Schule zu gehen, und wie das wiederum seine eigene Literaturerfahrung geprägt hat.
Bolaño ist selbstverständlich nicht die einzige Person, die ein romantisches Verhältnis zum Bücherstehlen hat; er reiht sich ein in eine illustre bibliokleptomanische Tradition, über die Miguel Albero das lesenswerte, leider nicht ins Deutsche übersetzte Buch »Roba este libro« schrieb. Im Spanischen finden sich zahlreiche Essays und Texte zur Praxis des Bücherstehlens. Im Netz kursiert sogar ein »Kurzes Handbuch zum Klauen von Büchern ohne Gewissensbisse« (»Breve manual para robar libro y no sentir remordimiento«), von dem ich nicht sicher bin, ob es borgeske Prosa oder ernstgemeint ist. Dort werden unter anderem das Für und Wider von literarischem Mundraub diskutiert, Fragen nach der Zugänglichkeit von Kunst gestellt oder Regeln vorgeschlagen: »Nicht in Buchhandlungen klauen, die gerade erst aufgemacht haben.« Oder: »In öffentlichen Bibliotheken nur Bücher klauen, die seit Jahren ungelesen sind.« Oder: »Aufhören, sobald man genügend Geld verdient.« Oder: »Schlimmer als ein Buch zu stehlen ist nur, das Buch nicht zu lesen«.
Ich selbst habe mein erstes Buch in der vierten Klasse geklaut: ein zerfleddertes 3D-Auffaltbuch über Baustellen aus der Bibliothek meiner Grundschule, das ich noch Jahre später nicht ansehen konnte, ohne mich schlecht zu fühlen. Im FAZ-Büro von Jürgen Kaube habe ich mal »Soziale Systeme« von Luhmann eingesteckt, für das ich mich an dieser Stelle noch mal bedanken möchte.
Der bibliokleptomanische Stolz Bolaños, der diese Form Delinquenz als Liebesbeweis betrachtet, findet sich aber nicht nur unter Bücherdieben, sondern mitunter auch bei den Beklauten selbst. Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel postete kürzlich, dass jemand in ihr Auto voller Bücherkisten eingebrochen sei, freilich ohne ein einziges zu stehlen. »Wenn sie wenigstens einen Gedichtband mitgenommen hätten. Danke für nichts, Berlin.« Unter Seels Eintrag schrieb Verleger Dietrich zu Klampen: »Ich verstehe deine Empörung. Uns ist das auch passiert: Auto aufgebrochen, die Verpackungen aufgerissen, das Hamburger Adorno-Symposium in Massen gefunden, nicht einmal ein Belegexemplar mitgenommen.«
Und damit lande ich am Ende doch noch bei der Leipziger Buchmesse. Nicht allein, weil Buchmessen traditionell Orte des gepflegten Bücherstehlens sind. Sondern weil sich in einer eben beschriebenen Enttäuschung darüber, dass jemand nicht die Lyrik von Monika Rinck oder die Gesamtausgabe von Soma Morgenstern gestohlen hat, eine Weise des Büchermachens zum Ausdruck kommt, die sich nicht in Kosten-Nutzen-Rechnungen erschöpft (»Die Standgebühren!«), die sich vielmehr der Idee verschrieben hat, gute Bücher unter die Menschen zu bringen und sich erst im zweiten Schritt zu fragen, wie man das finanziert. Ob die Leipziger Buchmesse etwas grundlegend anderes ist bzw. sein kann als eine industrielle Messe in Hannover, hängt vor allem davon ab, ob Verlage und Verleger ihre Entscheidungen als etwas anderes begreifen, als es Hersteller hydraulischer Steuerblöcke in aller Regel tun.
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