Selektiv und reaktionär
Von Susanne KnütterSoziale Ungleichheit und Lehrkräftemangel – mit den Begriffen würden kritische Köpfe (nicht erst) heute vermutlich spontan das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zutreffend beschreiben. Am 1. Juli stellte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit Blick auf den gleichentags veröffentlichten Kurzbericht über den IQB-Bildungstrend 2021 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erneut fest: »Der sozioökonomische Status der Familie spielt eine immer größere Rolle beim Kompetenzerwerb der Kinder.« Schulerfolg und Lebensperspektiven sind eng mit dem Elternhaus verknüpft. Diese »Achillesferse des deutschen Bidlungssystems«, wie die GEW die soziale Auslese in ihrer Pressemitteilung nennt, wurde spätestens mit PISA 2001 allen deutlich gemacht.
Und 20 Jahre später konstatiert die Gewerkschaft immer noch: Statt der »gesellschaftlich notwendigen Entkopplung« verschärfe sich die Situation. Marxisten würden das als Ausdruck der Konkurrenzgesellschaft beschreiben. Die GEW spricht von »einem allgemeinen Trend« und fordert ein konsequentes Vorgehen gegen den »dramatischen Lehrkräftemangel«.
Außerdem kritisiert die Gewerkschaft das sogenannte Aufholprogramm nach Corona von der Bundesregierung. Die Mittel kämen nicht da an, wo sie am meisten benötigt werden – bei den »benachteiligten Kindern und Jugendlichen«. Bevor es dafür eine »Neuauflage mit geplanten 500 Millionen Euro gibt«, brauche es ein Verteilsystem, das dafür sorgt, »dass die Gelder dorthin fließen, wo sie direkt wirken«, unterstrich Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied und -Schulexpertin am 1. Juli, und wiederholte eine um den Gewerkschaftstag der GEW Ende Juni herum in Leipzig häufig genannte Losung: »Ungleiches ist ungleich zu behandeln.« Die Bildungsgewerkschaft greift damit insbesondere das ungerechte Finanzierungssystem nach dem Königsteiner Schlüssel an.
Ein schlechter Witz ist auch, dass die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ein »Start-Chancen-Programm« für »4.000 Schulen in schwieriger Lage« zugesagt und für »weitere 4.000 Schulen« vereinbart hat, »Schulsozialarbeit zu verankern«. Denn bundesweit gibt es mehr als 32.000 Schulen. Dafür dann im Haushalt nicht die entsprechenden Ressourcen bereitzustellen ist ein Treppenwitz.
Das sind nur kleine aktuelle Hinweise darauf, wie ernst es den politischen Entscheidungsträgern ist, soziale Ungleichheit im Bildungssystem zu verringern: nämlich nicht sonderlich. Die jW-Beilage »Bildung und Ausbildung« liefert dafür weitere Beispiele. So etwa der Text über die Kitareform in Brandenburg, die aus Elternperspektive zwar nötig wäre, aus finanziellen Gründen aber gestoppt wurde. Auch die lange überfällige und nun beschlossene Bafög-Reform verdeutlicht, dass ernsthafte Unterstützung mittelloser Studenten zweitrangig ist. Damit beschäftigt sich der letzte Artikel der Beilage. Wie es um den Aufstieg aus der eigenen sozialen Klasse in Frankreich bestellt ist, erläutert der Beitrag zum strukturellen Dualismus im französischen Bildungssystem.
Aber noch etwas gehört zur Beschreibung des hiesigen Bildungssystems unbedingt dazu: Die vermittelten Inhalte und Methoden sind zum größten Teil reaktionär. In allen (bürgerlichen) Staaten hat das Bildungssystem die Aufgabe, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu stärken. Auch hierzulande muss das notwendigerweise mit der Vermittlung falscher Informationen einhergehen. Der erste Beitrag der Beilage beschäftigt sich daher mit den Methoden und Inhalten der politischen Bildung an Gymnasien. Im folgenden Artikel wird unter die Lupe genommen, wie Krieg an deutschen Schulen diskutiert wird. Um es vorwegzunehmen: Ein kritischer Zugang zur Regierungspolitik ist nicht vorgesehen.
Welche Interessen hinter der Ausbildung wirken, zeigt der Artikel zum Zustand der Berufsschulen auf. Fehlt nur noch ein Beitrag: Am Beispiel des Hebammenstudiums werden die Möglichkeiten und Grenzen der Akademisierung von Ausbildung aufgezeigt.
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