Wahlen und Waffen
Von Frederic SchnattererLateinamerika erlebt eine Welle linker Wahlsiege. Im Juni gewann der zumindest von vielen Progressiven unterstützte Gustavo Petro die Präsidentschaftswahl in Kolumbien – traditionell eine Hochburg der Rechten und enger Verbündeter der USA in der Region. Im Oktober wird in Brasilien ein neues Staatsoberhaupt gewählt, die Chancen für den früheren Präsidenten der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, den Amtsinhaber Jair Bolsonaro zu besiegen, stehen laut Umfragen gut.
Nicht nur wären dann vier Jahre ultrarechter Regierung Geschichte, welche Thema der Rezension des Buches »Brasilien über alles« auf Seite 6 dieser Beilage ist. Mit Brasilien würde ein weiteres lateinamerikanisches Schwergewicht Teil des links-progressiven Regionalblocks. Der war schon 2021 durch die Wahlsiege von Gabriel Boric in Chile, von Xiomara Castro in Honduras und von Pedro Castillo in Peru deutlich größer geworden. Dass linksliberale Regierungen einen Unterschied machen können, zeigte zuletzt der Amerikagipfel in Los Angeles. Nachdem die USA als Gastgeber die Regierungen Kubas, Venezuelas und Nicaraguas ausgeladen hatten, sagten mehrere wichtige Staatschefs ihre Teilnahme ab, darunter Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador und sein bolivianischer Amtskollege Luis Arce. Dass Washington in der Region an Einfluss verliert, lässt sich auch im Beitrag von Marius Weichler »Eine Krise von vielen« auf Seite 2 am Beispiel Argentinien nachlesen. Buenos Aires lässt sich nicht für die antirussische Stimmungsmache einspannen, sondern baut seine Beziehungen zu Moskau trotz des Ukraine-Krieges aus.
Doch wo »links« drauf steht, ist nicht automatisch »links« drin. Das zeigen nahezu alle als progressiv betitelten Regierungen in der Region. Kritik beispielsweise an López Obrador von mexikanischen Feministinnen, an Boric von indigenen Mapuche oder an Nicolás Maduro in Venezuela von Kommunisten nimmt zu. Kein Wunder also, dass auch Kritiker der Strategie der breit angelegten Bündnisse mit (links-)liberalen Kräften zur Erringung von Wahlerfolgen lauter werden. Die Diskussion über die Wahl der Mittel zur Erlangung von Recht und Gerechtigkeit ist alt – und keineswegs abgeschlossen. Neben Kräften, die zuvorderst auf eine Beteiligung am bürgerlichen Parlamentarismus fokussieren, gibt es solche, die alle Spielregeln des Klassenstaats ablehnen.
Beispielhaft für letztere Position stehen die in dieser Beilage thematisierten Guerillabewegungen aus Kolumbien – insbesondere die FARC-EP. Julieta Daza diskutiert in »Der am wenigsten schmerzhafte Weg« auf Seite 3 der Beilage deren Geschichte und die durch den Wahlsieg Petros veränderte politische Landschaft. Das von Thorben Austen geführte Interview mit dem ehemaligen guatemaltekischen Guerillero César Montes beleuchtet die gerade in Lateinamerika bedeutende Geschichte des bewaffneten Kampfes auf den Seiten 7 und 8. Auch der frühere venezolanische Präsident Hugo Chávez setzte zunächst auf eine gewaltsame Übernahme der Regierung, was ihm vor genau 30 Jahren jedoch verwehrt blieb. Allerdings bildete sein Putschversuch die Grundlage für den Wahlsieg 1998 und die »Bolivarische Revolution«, schreibt Santiago Baez in »Por ahora« auf Seite 4. In Kuba war die bewaffnete Revolution 1959 erfolgreich. Daraus hervorgegangen ist ein politisches System, das jenseits des bürgerlichen Demokratiebegriffs und trotz aller Schwierigkeiten infolge der 60jährigen US-Blockade die Herrschaft des Volkes garantiert, wie in Volker Hermsdorfs Beitrag »Das Volk als Souverän« auf Seite 5 deutlich wird.
Illustriert ist die Beilage mit Fotos politischer Graffiti und Wandgemälde aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Sie geben einen guten Eindruck von der Lebendigkeit der Kämpfe.
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