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Aus: Literatur - Buchmesse Frankfurt/Main, Beilage der jW vom 19.10.2022
Belletristik

Ganz zum Schluss das Zauberwort

Moritz Hürtgens gelungener Debütroman »Der Boulevard des Schreckens«
Von Stefan Gärtner
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Ein schönes »mot« des Kollegen Mark-Stefan Tietze lautet: »Das Geheimnis des Journalismus: Es kann nicht abgeschmackt genug sein«, und so eskaliert ständig irgendwas, auch wenn niemand zu Schaden kommt, und werden noch Gelder in Kassen gespült, wenn die Nordseeküste längst bei Hannover verläuft. Um so ehrbarer ist es, tote Journalmetaphern mit neuem Leben zu versehen und etwa dafür zu sorgen, dass der »süffisantische« (Heinz Becker) Vorwurf, die Boulevardpresse habe diese oder jene Schlagzeile »gedichtet«, von seiner dicken Staubschicht befreit und auf den sachlichen Kern zurückgeführt wird.

Im ersten Roman des scheidenden Titanic-Chefs Moritz Hürtgen ist Martin Kreutzer Volontär bei einer überregionalen Berliner Tageszeitung und möchte, nach drei Jahren Volontariat, endlich einen Treffer landen. Als es um ein Interview mit dem Künstler Lukas Moretti geht, der Kreutzers konservativem Blatt weder Rede noch Antwort zu stehen gedenkt, erinnert sich Martin daran, mit Moretti zur selben Zeit dieselbe Uni besucht zu haben; daraus wird in der Redaktionskonferenz die Lüge, mit Moretti sei er eng genug, um ihn für ein Gespräch zu gewinnen. Martin fährt also nach München, scheitert erwartbar, leistet sich die zweite Lüge, indem er das Interview schlicht erfindet, und reist, nachdem just bei Manuskriptabgabe der plötzliche Tod Morettis gemeldet wird, in die bayerische Provinz, wo der Künstler in der Heimat an der S-Bahn-Strecke lag. Und dann geschieht permanent Haarsträubendes, Tödliches, mit dem gesunden Menschenverstand nicht recht Erklärliches (und vom nicht so gesunden Menschenverstand eben darum leicht Erklärtes), und so zusammengefasst mag deutlich werden, worauf ein Roman, dessen Titel vom »Boulevard des Schreckens« kündet, hinauswollen könnte. Er selbst ist, was Orientierungsempfehlungen betrifft, geiziger; dass die forsch gestartete Schelmenerzählung ein »Twin-Peaks«-Aroma erhält, scheint eher erzählerischem denn satirischem Übermut geschuldet, auch wenn die Umschlagwerbung davon spricht, hier würden die schweren zeitgenössischen Sorgen verhandelt, die die Welt mit Fake News hat.

Die knappe Unbekümmertheit des Prosatons und die steile Rätselhaftigkeit der Geschehnisse bürgen aber allenfalls zum Schein dafür, dass uns einer was verkaufen will, und allein das ist ein dickes Lob wert. »Ein Roman über Politik und Kunst, Fakten und Fiktion«, meldet der Schutzumschlag gewissenhaft, und wer will, malt sich aus, was Juli Zeh daraus gemacht hätte. Was »Der Boulevard des Schreckens« will, bleibt, der Satire auf Pressgeschäft und Verschwörungsmumpitz ungeachtet, aber eine schöne lange Weile erfreulich unklar, und die Auflösung ist kein Fazit, sondern schürzt schlicht den Knoten der Erzählung. Dass dem Roman nicht das heute übliche Danksagungsgeplapper anhängt, darf da wie ein Bekenntnis zur ästhetischen Immanenz gelten: Er genügt sich selbst, und reicht das nicht? Oder soll man’s dann doch als ironischen Kommentar zur autonomen Zauberhaftigkeit von Zeitungs­boulevard und Verschwörungsglauben nehmen?

In jedem Fall muss der Eindruck, dem Text hätte ein bisschen Politur hier und da gutgetan, der Anerkennung des Selbstbewusstseins weichen, mit dem Hürtgen auf jede (und sei’s ironische) Prätention verzichtet. Wenn Literatur ist, dass Form und Stoff zueinander genug einfällt, dann hat der Autor alles richtig gemacht, und dass die irre Geschichte zum guten Schluss aufgeht, einleuchtet und ein Zauberwort anbietet, das eine gelegentlich roh gezimmerte, sich auf Running gags und anderes Signalement verlassende Welt geradezu universalpoetisch beglaubigt: Da ist man richtiggehend baff. »Sich erschrecken« kann man trotzdem nicht, das Imperfekt von »sie stieben« lautet »sie stoben«, und Volontariate dauern bloß zwei Jahre. Dies aber nur, damit mich alten Lektoratskritiker niemand der Befangenheit zeiht; dem Roman tut’s keinen Abbruch.

Moritz Hürtgen: Der Boulevard des Schreckens. Verlag Antje Kunstmann, München 2022, 304 Seiten, 24 Euro

Stefan Gärtner ist u. a. Kolumnist bei Titanic.

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