Der aufrechte Gang
Von Arnold SchölzelDer sowjetische Aufklärer, Historiker und Schriftsteller Nikolai Sergejewitsch Leonow lebte von 1928 bis 2022. Im Nachruf auf ihn zitierte Volker Hermsdorf am 5. Mai 2022 in jW ein Interview, das Leonow 2016 dem kubanischen Fernsehen gegeben hatte: »Man sagt, es habe nur vier Revolutionen gegeben: die Französische, die Russische, die Chinesische und die Kubanische. Weil diese Revolutionen die Entwicklung der Welt entscheidend verändert haben, können sie nicht mit anderen verglichen werden.« Hermsdorf fügte an: »In gewisser Weise gilt das auch für das Leben von Nikolai Leonow.« Der Lebenslauf des Bauernjungen aus einem zentralrussischen Dorf steht für das, was die Sowjetunion für Millionen Menschen im eigenen Land und für Milliarden Menschen vor allem in den kolonial ausgebeuteten Weltteilen bedeutete: Befreiung aus Elend und Hunger, umfassende Bildung, die Abwehr unablässiger Versuche der imperialistischen Staaten, das rückgängig zu machen, tatkräftige Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe in der »dritten Welt«. Zu Leonows Biographie gehört aber auch die bittere Erkenntnis, dass der Führung der UdSSR seit Ende der 60er Jahre politischer Realismus und damit die Macht nach und nach abhanden kamen – bis es zu spät war.
Leonow wurde geboren, als der Acker seiner Eltern noch privatwirtschaftlich bestellt wurde, wuchs aber ab 1929 bereits in einer Kolchose auf. Er verbrachte die Kindheit unter Arbeitern der neuen sowjetischen Industriebetriebe und auf dem Dorf, wo im Grunde noch Naturalwirtschaft herrschte. Der Überfall des deutschen Faschismus unterbrach den Unterricht in der Schule – er hatte auf abenteuerliche Weise für die Ernährung der Familie zu sorgen und sprach rückschauend von »Vagabundenleben«. 1943 zwang ihn sein Stiefvater wieder zum Schulbesuch, er hatte Glück mit seinen Lehrern und erhielt für seinen ausgezeichneten Abschluss 1947 eine Goldmedaille. Sie öffnete ihm die Türen der Moskauer Hochschule für Internationale Beziehungen – einer Kaderschmiede der Nomenklatur, in der er sich unwohl fühlte. Dennoch absolvierte er auch das Studium mit Auszeichnung, wurde aber durch eine Intrige 1952 nicht mehr für den diplomatischen Dienst zugelassen. 1953 schickte ihn der Verlag für fremdsprachige Literatur, in dem er arbeitete, nach Mexiko zur Arbeit als Dolmetscher an der sowjetischen Botschaft und zum Sprachstudium. Auf dem Dampfer, der ihn 1953 von Genua über Havanna dorthin brachte, lernte er Raúl Castro kennen, den er 1956 zusammen mit Ernesto »Che« Guevara mitten in Mexiko-Stadt wiedertraf. Leonow freundete sich mit beiden an, wurde aber eilig nach Moskau zurückgerufen, als das bekanntwurde.
Zwei Jahre später erinnerte sich der sowjetische Auslandsnachrichtendienst jedoch an ihn und von nun an traf er die kubanischen Revolutionäre oft in Havanna und in Moskau als Dolmetscher und Freund der sozialistischen Insel. Er begann eine Karriere, die ihn zum Abteilungsleiter und General im Geheimdienst KGB machte, bis er 1991 faktisch mit dem Ende der UdSSR in den Ruhestand entlassen wurde. Im April 1991 hatte er noch Gelegenheit, vor Abgeordneten des höchsten sowjetischen Parlaments über die Lage der UdSSR zu sprechen. Er warnte »aus ganzem Herzen« vor den »Troubadouren des Separatismus« im eigenen Land und vor dem Ziel insbesondere der USA, die Sowjetunion aufzuteilen – vergeblich. Der Text dieser Rede wird auf den Seiten zehn und elf dieser Beilage dokumentiert.
Leonow hatte den Blick eines Historikers und Philosophen aufs aktuelle politische Geschehen. Das befähigte ihn – und vermutlich viele seiner Kollegen –, früh zu erkennen, dass die politische Führung der UdSSR die eigenen Kräfte über- und die des Gegners unterschätzte. Versuche, eine realistische Einordnung durchzusetzen, scheiterten seit den 70er Jahren immer wieder.
Der Philosoph Ernst Bloch formulierte einmal: »Auf tausend Kriege kommen keine zehn Revolutionen: So schwer ist der aufrechte Gang.« Leonow ging aufrecht – dank der UdSSR.
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