75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Marxismus, Beilage der jW vom 29.03.2023
Marxismus

Ebb- und Flutperioden

Karl Marx zeigte: Die zyklischen Krisen des Kapitalismus erwachsen aus der wechselnden Lage der Arbeiterklasse. Bankpleiten und Börsenkräche sind nur Symptome
Von Arnold Schölzel
1.jpg
Karl Marx: »Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände« (Panik an der Wall Street nach dem Kollaps des Aktienmarkts 1873, zeitgen. Karikatur)

Als Karl Marx am 14. März 1883 starb, lag der »Gründerkrach«, der von Wien ausgehend weltweit immer noch den Kapitalismus schüttelte, zehn Jahre zurück. Das 150jährige »Jubiläum« dieser Krise ist Anlass für diese jW-Beilage. Marx hatte sich mit dem wirtschaftlichen Kollaps von 1873 und den folgenden Jahren schwachen Wachstums nicht so ausführlich befasst wie mit früheren Krisen, in denen er – etwa 1857/1858 – Vorboten der proletarischen Revolution sah. Den Zusammenhang von »Ebb- und Flutperioden des industriellen Zyklus« (MEW, Band 23, Seite 477) mit der Lage der Arbeiterklasse und dem Klassenkampf stellte er in seiner »Kritik der politischen Ökonomie« immer wieder her. Denn aus seiner Sicht bestimmte dies auch deren Geschichte. So erläuterte er im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapitals« vom 24. Januar 1873, deren klassische Literatur falle in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts »in die Periode des unentwickelten Klassenkampfs«. Noch zwischen 1820 und 1830 seien »glänzende Turniere gefeiert« worden, was aus den Zeitumständen zu erklären sei: Die große Industrie habe »erst mit der Krise von 1825 den periodischen Kreislauf ihres modernen Lebens eröffnet«. Andererseits sei »der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit« im Hintergrund geblieben. Das änderte sich laut Marx 1830, als die Bourgeoisie in Frankreich und England »politische Macht« eroberte. Die nun drohende Auseinandersetzung habe »die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie« geläutet: »Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht.«

Im ersten Band des »Kapitals« gibt Marx ein Beispiel für die durchgängige »Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie« (MEW, Band 23, Seite 662), wenn es um die Erforschung der industriellen Zyklen geht. Nach ihm ist die »plötzliche und ruckweise Expansion der Produktionsleiter« die Voraussetzung »ihrer plötzlichen Kontraktion«. Die erstere aber sei unmöglich ohne Vermehrung der Anzahl beschäftigter Arbeiter. Die zweite wiederum werde »geschaffen durch den einfachen Prozess, der einen Teil der Arbeiter beständig ›freisetzt‹«. Die »ganze Bewegungsform der modernen Industrie« erwachse aus der ständigen »Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände«. Die politische Ökonomie aber mache »die Expansion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache«. In der von Marx autorisierten französischen Ausgabe des »Kapitals« (1875) folgt an dieser Stelle eine wichtige Einfügung: Die Dauer dieser Zyklen sei bis jetzt zehn oder elf Jahre, es gebe aber »keinerlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten«. Sie sei »variabel«, und die Periode der Zyklen werde »sich stufenweise verkürzen«.

Es geht hier um ein Kernelement herrschender Ideologie: Der Kapitalismus ist nach der 200jährigen Lehre seiner Apologeten theoretisch krisenfrei und die gegenteilige Marxsche Auffassung falsch. Die Überzeugungskraft dieses Dogmas hat in den Jahrzehnten nach dem Untergang der europäischen sozialistischen Länder und dem scheinbaren Triumph des Kapitalismus weltweit stark nachgelassen. Krisen folgen so rasch aufeinander wie dessen Kriege. Bankenpleiten, Inflation oder Zinsen werden als Ursachen verkündet – ein Humbug, mit dem die Realität verschleiert wird: das Vergrößern oder Verkleinern der »indus­triellen Reservearmee« je nach Verwertungsbedürfnis des Kapitals – national wie international. Das Durchbrechen dieser Zyklen setzt die Überwindung des Kapitalismus voraus und den Übergang zur »Kontrolle der assoziierten Produzenten« (MEW, Band 25, Seite 131). Das aber ist ein globaler Klassenkampf, der sich vor unseren Augen vollzieht.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Kapital & Arbeit