Konterrevolutionäre Reserve
Von Nico PoppDas Jahr 1923 wird in der aktuellen historischen Publizistik als »Jahr der Extreme« besprochen, in dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft »außer Kontrolle« gerieten. Dieser merkwürdigen Abspaltung von der »normalen« Nationalgeschichte soll mit den Beiträgen dieser Beilage zumindest widersprochen werden.
Der aktuellste Aspekt von 1923 ist bedauerlicherweise dieser: In dem Jahr kam es zur ersten umfassenden faschistischen Mobilisierung in der deutschen Geschichte. Die faschistische Konterrevolution marschierte vor allem in dem zur reaktionären »Ordnungszelle« ausgebauten Bayern auf. Dort blühte nicht nur die Nazipartei auf: Die NSDAP war nur eine der Organisationen, die von einem »Marsch auf Berlin« träumten. Ein solcher Vorstoß wurde 1923 von einem Teil der herrschenden Klasse auch außerhalb Bayerns erwogen; auch deshalb ist die weiter gängige Bezeichnung der Münchner Ereignisse vom November 1923 als »Hitler-Putsch« irreführend.
Zuerst aus dem Weg geräumt werden sollten die linkssozialdemokratischen Landesregierungen in Sachsen und Thüringen, in die im Oktober 1923 auch kommunistische Minister eingetreten waren. Hier überschnitt sich das Programm der Berliner Regierung, in die im August 1923 in der Stunde größter Instabilität der bürgerlichen Herrschaft wie schon einmal im Oktober 1918 die Sozialdemokraten eingetreten waren, mit dem der faschistischen Fronde in Bayern.
Die KPD ihrerseits verfolgte eigene Ziele. In Moskau, wo man sechs Jahre nach der Oktoberrevolution weiterhin mehrheitlich davon überzeugt war, dass die Revolution in Russland von der Revolution in den kapitalistischen Metropolen flankiert werden musste, wenn sie überleben wollte, griff man entschlossen nach dem Strohhalm, den die optimistischen Lagebeurteilungen deutscher Genossen im Spätsommer zu bieten schienen.
Eine Revolution in Deutschland im Herbst oder Winter schien im August plötzlich möglich zu sein, im September rechnete die Führungsspitze der Kommunistischen Internationale nur noch mit wenigen Wochen. Die gesellschaftlich-politische Dynamik trieb offenbar ganz von selbst auf diesen Punkt der revolutionären Krise hin; was noch blieb, war die Frage der »organisatorisch-technischen Vorbereitung«, wie Edwin Hoernle, KPD-Vertreter bei der Komintern, Ende August 1923 an den KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler schrieb.
Bekanntlich kam es anders. Vorbereitungen, die bis zum 9. November, dem fünften Jahrestag der Revolution von 1918, abgeschlossen sein sollten, wurden getroffen. Diese Vorbereitungen berücksichtigten zu wenig, dass die Regierung ihrerseits bereits seit August entschlossene Maßnahmen ergriff, um die Krise im Sinne der herrschenden Klasse zu beenden. Am 26. September verhängte Reichspräsident Friedrich Ebert den Ausnahmezustand in ganz Deutschland, die vollziehende Gewalt ging an den Reichswehrminister über, der mit der sogenannten Schwarzen Reichswehr über eine jederzeit gegen die politische Linke einsetzbare, überwiegend kriegserfahrene Reserve verfügte; am 13. Oktober billigte der Reichstag ein Ermächtigungsgesetz.
Als Berlin gegen die linken Regierungen in Sachsen und Thüringen losschlug, blieb der Generalstreik – die notwendige Voraussetzung einer revolutionären Mobilisierung der Arbeiterklasse – aus. Den entsprechenden Antrag zog Brandler bei jener schicksalhaften Betriebsrätekonferenz im Chemnitzer Volkshaus am 21. Oktober zurück, weil er ein isoliertes Vorgehen der Kommunisten und die dann sichere Vernichtung der Partei nicht riskieren wollte. Nur die Genossen in Hamburg lösten einen isolierten Aufstand aus, der bis heute vom Scheitern der deutschen Revolution kündet. Als das Jahr 1923 endete, war die KPD, wenn auch nicht vernichtet, so doch verboten. Und in dem isolierten Sowjetrussland stand die Frage, wie es nach der Niederlage der Revolution im Westen würde überleben können.
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