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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

Schicksal im Übermaß

Zwischen den Welten steht der Held vor seiner Auflösung: Luna Alis »Da waren Tage«
Von Ken Merten
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Yury Kharchenko: »Zwischen Franz Kafka und mir« (2019).

Auch das ­Übermenschliche kommt ohne das allzu Menschliche nicht aus: »Die Superheldin und der Superheld haben gleichsam ›mehr Schicksal‹ als gewöhnliche Menschen oder Helden, sie sind in größerem Ausmaß Individuen als du und ich«, schreibt Dietmar Dath in seinem »100 Seiten«-­Reclam-Bändchen zur Causa »Superhelden« (2016). Batman hat einen Knacks weg, seitdem er als Kind mitansehen musste, wie seine Eltern bei einem Raubüberfall erschossen wurden. Superman ist Findelkind und Überlebender des zerstörten Planeten Krypton.

Vor Nöten und Zwängen sind auch sie nicht gefeit: Im Film »Brightburn« (2019) wird der extraterrestrische Superwaise am Anfang der Pubertät samt der damit einhergehenden sozio-hormonellen Wirren zum Serienmörder statt zum moralinübersäuerten Menschheitsretter; und in ­Jonathan Lethems großartigem Roman »The ­Fortress of Solitude« (»Die Festung der Einsamkeit«, 2003) erlangen die mit Superkräften versehenen Kinder aus der Hood von Brooklyn gar nicht erst Heroenstatus, weil sie ihrem gesellschaftlichen Rang entsprechend vorher weggesperrt oder getötet ­werden.

Der Superheld in Luna Alis Debütroman »Da waren Tage« heißt Aras. Ein Jedermann, der morgens nicht mit Tatendrang aus dem Bett hüpft, sich statt dessen noch einmal umdreht. Einer, der sich zum Büffeln für sein Jurastudium überwinden muss, statt dass er die Paragraphen wie einen gezähmten Hengst reitet. Einer, der auch mal nicht an einer Kundgebung teilnimmt, weil er sie im Stress schlicht vergessen hat. Einer, der zögert, ob er einem überforderten Geflüchteten mehr hilft, als ihm nur zu zeigen, wo hier die Milchprodukte im Supermarkt stehen, und der als Gast einer Talkshow nicht vor Charisma und Rhetorik sprüht. Aber auch einer, der, nachdem er mit seiner Mutter als Kind aus Syrien geflohen ist, die Lehrerschaft in Staunen darüber versetzt, wie schnell er Deutsch lernt. Einer, der sich trotz der Greuel und Unzumutbarkeiten seinen Humor nicht nehmen lässt. Zu den vielen Witzen im Roman gehört dieser: »Ein Hase wird vom syrischen Geheimdienst gefoltert. Warum? Der Hase soll gestehen, dass er eigentlich ein Esel sei.« Einer, der Stunden in den Warteräumen bundesdeutscher Behörden verbringt, damit sein ­Onkel endlich aus dem Bürgerkrieg und nach Deutschland kommen kann. Und einer, der seine Freizeit zwischen den Examensvorbereitungen an Bord eines Schiffs für Seenotrettung im Mittelmeer verbringt.

Große, oftmals mehr als menschengroße Leistungen, die Aras vollbringt, aber keine, die ihn zum Unikat machen, auch nicht, wenn man sie summiert. Ist die Handlung des Romans letztlich aber im Jahr 4020 des nicht vorhandenen Herrn angelangt, zeigt sich, dass die Stressmomente, in denen Aras dissoziierend in eine Parallelwelt abkippt und dabei Gespräche unter anderem mit Menschenrechtlerin Angelina Jolie führt, keine Anzeiger für eine psychische Erkrankung sind, sondern übernatürliche Eigenschaften. »Aras hatte Angst vor seiner eigenen ganz konkreten individuellen Auflösung.«

Wie Aras geht es Unzähligen, die fliehen mussten und mehr oder minder zwischen den Welten hängen. Die Welten sind nicht nur geographisch und per internationaler Arbeitsteilung und Ausbeutung auch politökonomisch voneinander geschieden, wie das im Krieg versinkende Syrien dort und eine Bundesrepublik hier, die Menschen nur dann Einreise und Asyl gewährt, wenn Familienangehörige oder Bürgen nachweisen können, dass sie ein Einkommen haben, das weit über das hinausgeht, was man in jenem deutschen Niedriglohnsektor verdient, in dem sich auch Aras’ Mutter als Putzkraft verdingt. Welten liegen auch zwischen Aras und seinem Vater. Der in Syrien verschwundene (was sehr wahrscheinlich bedeutet: aus politischen Gründen und geheim inhaftierte) Kommunist, der durch sein Kommunistsein zumindest mitverantwortlich dafür ist, dass seine Frau und sein Sohn das Land verlassen mussten, ist für Aras eine ferne Reminiszenz. Dass er ihm das Fahrradfahren beibrachte, wie es Väter nun mal tun, daran kann er sich erinnern. »Aber sie hatten kein wirkliches Vater-Sohn-Verhältnis.«

Das ist nicht nur biographisch gemeint: Ja, die Mutter singt die »Internationale« auf Arabisch, als Weigerungsgeste, nachdem man sie dazu auffordert, die syrische Nationalhymne zu trällern, um den Behörden zu belegen, dass sie auch wirklich Syrerin ist. Aras spuken derweil zwar marxistische Versatzstücke durch den Kopf, vielmehr ist er aber von Hannah Arendt und ihrer Totalitarismustheorie geprägt. Allem daraus abgeleiteten Postnationalismus zum Trotz hat sich bei ihm doch ein gewisser grundgesetzlicher Verfassungspatriotismus gefestigt, wie er dem Linksliberalismus eigen ist. Er hält Stücke auf den Westen und das, was er zum Sieg der Opposition gegen den Assad-Apparat beitragen könnte, auch wenn das, was NATO-Staaten letztlich tun – Gotteskrieger mit Waffen auszustatten – nicht das ist, was er sich erhofft hatte. Fest steht aber für ihn: Hier geht es um Demokratie gegen Diktatur. Auch wenn er mit seiner Rolle hadert, in Momenten der Prüfungsangst nicht weiß, ob die Ausbildung zum Anwalt, der mit seinem Abschluss ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland praktizieren kann, die richtige Entscheidung war.

Nicht nur allzu, sondern viel zu menschlich sind oftmals die Dialoge im Roman, etwa als Aras am Morgen einer ­schriftlichen Prüfung Angst und Wut packt, er arg plump gegen Thomas Hobbes wettert: »Ich hasse Hobbes. Ich hasse den Gedanken, dass der einzige Grund, weshalb mich niemand töten will, die Angst vor der Macht des Staates sei. Was, wenn mich der Staat töten will?« Und seine eingeschlagene ­Karriere hinterfragt. Freundin Rhea besänftigt Aras, indem sie das Wandtattoo der Kritischen Theorie zitiert: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Danach wird das Gespräch lockerer: »Er zerrte sich los von seiner neoliberalen Selbstgeißelung.« Rhea berichtet von einer Kommilitonin, die sie gefragt habe, ob Aras sie schlagen würde: »Sie meinte, weil du doch Araber bist. Die seien doch so gewaltbereit.« Dem entgeisterten Aras fällt darauf partout nicht ein, was Rhea entgegnet haben könne, also erzählt sie es ihm; sie habe geantwortet: »Ja, aber nur im Schlafzimmer.«

Genau dort aber ist Aras, einer von vielen und doch nicht irgendwer, der mit Schicksal überladene Superheld in Luna Alis »Da waren Tage«, am sanftesten.

Luna Ali: Da waren Tage. Verlag S. ­Fischer, Frankfurt am Main 2024, 304 Seiten, 24 Euro

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