junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Freitag, 17. Mai 2024, Nr. 114
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

69 Cent die Stunde

System Werkstätten: Menschen mit Behinderung ackern für einen Hungerlohn. Chancen auf dem »ersten Arbeitsmarkt« werden ihnen oft verwehrt
Von Annuschka Eckhardt
3a.jpg
»Wenn Schönheit so ein großes Privileg war, wieso haben diese ominösen Menschen dann nicht besser auf schöne Dinge geachtet?«

Es ist viel los an der Haltestelle Osloer Straße im alten Arbeiterviertel Berlin-Gesundbrunnen. Der Fahrer einer gelben Tram klingelt und schaut streng auf die Menschen, die über die rote Ampel eilen. An einem Laternenmast hängen zwei Din-A4-Blätter in zerknitterten Klarsichtfolien. Mit schwarzem Filzstift steht in krakeliger Handschrift: »Bin 44 Jahre alt und gehe in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Weil man von 69 Cent die Stunde nicht leben kann und ich schwer krank bin und zwei Wochen im Monat der Kühlschrank leer ist, suche ich dringend nette Leute und Familien, die mir helfen können. Spenden: Einkaufsgutscheine für Lebensmittel und Hygieneartikel.« Und eine Mobilfunknummer, die zwischen 13 und 22 Uhr erreichbar ist.

Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen verdienen laut dem Verein Werkstatträte Deutschland, der die Interessen von mehr als 300.000 Beschäftigen vertritt, im Durchschnitt 220 Euro im Monat – für eine Vollzeitstelle. Rund 3.000 dieser Werkstätten gibt es in der BRD.

Nur wenige hundert Meter entfernt vom Hilferuf: »Barrierefreiheit beginnt im Kopf«, sagt Michelle Houschka, während sie ihren Kollegen die Tür zur Schneiderei aufhält. Die zierliche Frau mit den langen, graublonden Haaren trägt einen pinkfarbenen Fleecepullover, eine blaue Jogginghose und Sneaker mit passendem rosa Emblem. Sie arbeitet in der Verwaltung des Unionshilfswerks USE und ist Mitglied des Werkstattrats. In der Schneiderei ist es hell und ruhig, es duftet nach frisch gewaschener Wäsche. Eine Beschäftigte kommt auf Houschka zugelaufen, quietscht vor Freude und umarmt sie herzlich. Am Nachmittag haben hier viele Kollegen schon Feierabend, die Nähmaschinen stehen still.

Etwas abseits steht eine Schaufensterpuppe. Sie trägt eine blaue Küchenschürze mit aufgenähter quietschgelber Kängurutasche in Form einer Zitronenscheibe. »Diese Produkte werden in unserem Onlineshop und im Ladencafé verkauft«, erklärt eine Mitarbeiterin aus der Öffentlichkeitsarbeit, die den Besuch engmaschig begleitet. Insgesamt 1.400 Beschäftigte und 400 Mitarbeiter arbeiten an mehreren Standorten der USE. Beschäftigte sind die Menschen mit Erkrankungen, Mitarbeiter die vermeintlich ohne.

»Die USE ist nicht nur eine Werkstatt für behinderte Menschen, sondern wir haben unter anderem auch Maßnahmen der unterstützenden Beschäftigung und verstehen uns als spezieller Anbieter für psychisch erkrankte Menschen«, erzählt Geschäftsführer Andreas Sperlich im Konferenzraum neben seinem Büro. »Die Geschichte der USE ragt zurück bis in die 70er Jahre. Seinerzeit wurden in Deutschland die Psychiatrien geöffnet. Das kann sich heute eigentlich kaum noch jemand vorstellen, dass damals psychisch erkrankte Menschen grundsätzlich in geschlossenen Anstalten lebten. Und nicht mitten unter uns.« Im USE gebe es »alles an psychischen Erkrankungen, was Sie sich vorstellen können«, von Psychosen und Borderline-Erkrankungen über schwere Depressionen bis zu Erkrankungen mit Schizophrenie.

Und weiter: »Viele der Beschäftigten hier haben studiert, manche haben promoviert und trotzdem kriegen die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung den ganzen Tag relativ wenig auf die Reihe«, erzählt Sperlich. Das habe sowohl mit den Medikamenten zu tun, als auch mit der Erkrankung. »Es geht dann nicht darum, denen irgendwelche Kenntnisse zu vermitteln, sondern um Stabilisierung und Steigerung der Belastbarkeit«, meint Sperlich. Für manche sei es »ein Riesenwert«, einfach jeden Tag in der USE sein zu können, weil sie, »bevor sie bei uns waren«, vielleicht jahrelang nicht aus der Wohnung gegangen sind.

Im Gespräch geht es auch um den Lohn der Beschäftigten, der durch verschiedene Träger – Jobcenter oder Rentenkassen – aufgestockt werden muss. »Es gibt ja immer die Illusion, dass man glaubt, wenn alle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten würden, dann wäre alles gut. Das glaube ich mitnichten. Ich glaube, dass die Menschen da oft auch nur Mindestlohn erhalten würden. Und auch dieser Arbeitsplatz müsste von den Arbeitgebern hoch subventioniert werden«, so der Geschäftsführer.

Betriebswechsel in der Werkstatt: Im Metallbaubereich riecht es nach Schweißerarbeiten. Auf Regalbrettern an der Wand steht ein Sammelsurium aus metallenen Modellbauten, die Beschäftigte während ihrer Ausbildungszeit gebaut haben. Der Berliner Fernsehturm hat seinen Platz neben der Titanic und der Londoner Tower Bridge. Ein originalgetreues Abbild des Reichstagsgebäudes mit einer kleinen Deutschland- und Ukraine-Flagge sticht besonders heraus.

Wie problematisch die fehlende Angliederung an »normale Ausbildungen« ist, beschreibt auch ein Lehrer der Metallwerkstatt, der ungenannt bleiben möchte. Dadurch, dass es keinen Zugang zu Berufsschulen gebe, werde die zertifizierte Ausbildung in den Werkstätten nicht auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt anerkannt. Laut seiner langjährigen Erfahrung schaffe ungefähr eine Person im Jahr »den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt«.

Was sagt der Berliner Senat? Das etwa: »Werkstätten in ihrer derzeitigen Form sind ein exkludierendes System, da sie sich als Einrichtung ausschließlich an Menschen mit Behinderungen richten und damit mit der UN-Behindertenrechtskonvention unvereinbar sind«, sagt die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Christine Braunert-Rümenapf. »Wir benötigen noch in dieser Wahlperiode ein Konzept mit konkreten, zeitlich festgelegten Schritten zu einem Wandel.« Dazu gehöre unter anderem eine Reform des Entgeltsystems, eine anschlussfähige Gestaltung des Berufsbildungsbereiches durch die Entwicklung von lückenlosen Qualifizierungs- und Ausbildungsketten und eine klare Ausrichtung auf den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Beim Anruf der Handynummer vom Hilferufzettel an der Osloer Straße meldet sich eine freundliche, leicht krächzende Stimme: »Ich bin der Torsten Politowski und gehe seit 21 Jahren in eine Behindertenwerkstatt in Berlin-Hellersdorf arbeiten im Bereich Hauswirtschaft, Gebäudereinigung, Gartenaußenpflege, und ich bin schwer krank.« Politowski zählt bereitwillig eine lange Liste an Krankheiten auf. Seine Laktose- und Fruktoseunverträglichkeit bedürfte einer speziellen Ernährung. Diese könne aber bei seinem geringen Lohn und den Zuschüssen von anderen Trägern nicht gewährleistet werden. Auch Hygieneprodukte, wie Windeln für Erwachsene, seien ab der zweiten Monatshälfte mit leerem Kühlschrank finanziell unerschwinglich.

Viel bleibt Politowski nicht übrig, er klappert nach der Arbeit Supermärkte ab, um reduzierte laktosefreie Produkte zu finden. Und mit seinem Vater gehe er regelmäßig zur Tafel. »Oft warten wir bis zu drei Stunden in der Schlange, viele Lebensmittel, die dort ausgeteilt werden, kann ich aber gar nicht essen.«

Politowski ist keiner, der nur Hilferufe an Laternen befestigt. Er fordert. Etwa eine bessere Bezahlung von der Regierung. Konkret: 12,41 Euro pro Arbeitsstunde, mindestens den Mindestlohn. Und für ihn steht fest: »Das Geld darf uns nicht mehr von den Ämtern angerechnet und erst recht nicht weggenommen werden.«

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Inland