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Aus: 50 Jahre Nelkenrevolution, Beilage der jW vom 17.04.2024
Nelkenrevolution in Portugal

Sie kam gerade rechtzeitig

Über den Widerstand von Schülern gegen den Krieg in den portugiesischen Kolonien und die Diktatur kurz vor ihrem Ende. Ein Erfahrungsbericht
Von António Louçã, Lissabon
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Kurz nach dem Aprilputsch waren alle politischen Strömungen noch gemeinsam auf der Straße (Lissabon, 8.5.1974)

In den letzten Jahren der faschistischen Diktatur konnte man die Revolution bereits riechen, spüren, sehen kommen. Wir, Teenager, ahnten alle, dass es sich lohnte, etwas dagegen zu unternehmen. Für die Jungs war es auch eine existentielle Frage, denn wir mussten mit einem Militärdienst und dann mit bis zu vier Jahren Kolonialkrieg rechnen. Ob wir in Portugal noch vor der Einschiffung desertieren, dann über die grünen Grenzen Spaniens nach Frankreich flüchten, ob wir in die Kolonien gehen und dann zu den Befreiungsbewegungen überlaufen, ob mit oder ohne Waffen, ob wir den Krieg eher von innen sabotieren, wie es sich in endlosen Sitzungen debattieren ließ, das waren die Fragen, die uns damals beschäftigten. Wie die Mädchen das alles sahen, davon hatten wir nicht die leiseste Ahnung, herrschte doch in den Gymna­sien strenge Geschlechtertrennung.

Es war eine Selbstverständlichkeit, in Sachen Kolonialkrieg defätistisch zu sein. Wir haben jeden Sieg der Befreiungsguerillas gefeiert. Und der portugiesische Kolonialkrieg wurde nicht bloß als Rückzugsgefecht eines zweitrangigen anachronistischen Reichs von uns angesehen. Die afrikanischen Kolonien waren das portugiesische Vietnam. Portugal und die USA zu bekämpfen, das waren verschiedene Teile des Kriegs, um die ganze Welt zu ändern.

In meinem Zimmer hatte ich auf der Wand das berühmte Bild der kleinen vietnamesischen Frau, die mit ihrem Gewehr einen riesigen US-Piloten gefangen nahm. Das Bild gehörte mir und meinem Bruder, unsere Eltern hatten nichts dagegen. Als mein Bruder verhaftet wurde, kamen zwei Geheimpolizisten mit einem Durchsuchungsbefehl. Aber als Kinder einer Rechtsanwältin und eines Marineoffiziers genossen wir gewisse Privilegien. Die zwei Polizisten taten so, als würden sie weder das Vietnam-Bild noch die Bücher von Marx, Lenin und Trotzki auf den Regalen sehen. Insbesondere wollten sie kein Ärger mit den Militärs.

Amateurhafte Konspiration

Das trug alles zu einer gewissen Selbstüberschätzung unsererseits bei. Wie so viele meiner Altersgenossen war ich in einer kleinen Gruppe aktiv. Wir haben gegen den Krieg agitiert, mit Blitz­demos, Flugblättern, wo ein Treffpunkt angegeben, dann vor Ort ein anderer von Mund zu Mund mitgeteilt wurde, damit die Polizei nicht rechtzeitig reagieren konnte.

Irgendwann fingen wir an, Blitzaktionen zu organisieren. Eine Vierergruppe ging zum Beispiel in ein Gymnasium während der Unterrichtspause, sabotierte die Telefonleitung, besprühte die Direktorenräume mit Antikriegsslogans, warf eine Menge Flugblätter in die Luft und haute ganz schnell ab. Unter den Schülern war dies höchst beliebt. Denn die Aktionen erzwangen, den Anfang der folgenden Unterrichtsstunde zu verzögern, und sorgten für lustige Abwechslung.

Bezeichnend für den Verwesungsgrad der Diktatur ist die Tatsache, dass wir trotz dieser amateurhaften Methoden und unserer absoluten Inkompetenz in Sachen Konspiration nie ertappt wurden. Die Revolution kam für uns gerade rechtzeitig, verhaftet wurden nicht wir, sondern die Schergen der PIDE. Für mich persönlich auch deshalb rechtzeitig, weil ich bereits medizinisch untersucht worden war, in die Armee als 18jähriger gehen sollte, nur noch nicht gegangen war, weil ich mich im zweiten Universitätsjahr befand und eine Verzögerung bis zur Diplomierung genießen sollte.

Selbstüberschätzung der Jugend

Am 25. April ging ich morgens auf die Straße und wurde sofort von einem nie gesehenen Menschenstrom mitgerissen. Drei Tage lang waren Demos überall und ununterbrochen, Tag und Nacht. Kaum jemand ging nach Hause, es wurde kaum geschlafen. Und es ging weiter so, bis zur riesigen Demo am ersten Mai. Was wir über die russische Februarrevolution schon immer in den Büchern gelesen hatten und für einen schönen Traum hielten, ereignete sich plötzlich vor unseren Augen. Die Soldaten auf der Straße waren alles andere als die vom chilenischen Putsch ein halbes Jahr zuvor, sie verbrüderten sich gern mit dem Volk.

Und es kostete das Volk erstmals keine Todesopfer, die Stimmung von repressiven Truppen zu ändern und den Durchbruch zu erreichen. Es waren keine feindlichen Truppen, deren Moral man durch Mut und List untergraben musste. Diese Soldaten hatten selbst die Verbrüderung von Anfang an gewünscht. Daraus ergibt sich, dass die Nelken als Zeichen der Verbrüderung zum Symbol der ganzen Revolution wurden.

Uns wurde die Revolution geschenkt und das trug noch zusätzlich zu einer Selbstüberschätzung bei. Dummerweise versuchten wir mit nackten Händen den Sitz der Geheimpolizei zu stürmen. Die erschreckten Schergen schossen dann auf die Menge. Unter denen, die am nächsten am Tor waren, gab es vier Tote und Dutzende von Verletzten, die einzigen Toten des 25. April. Einer meiner engsten Freunde konnte nur knapp unverletzt entkommen. Erst am Tag danach kamen die bewaffneten Marineinfanteristen und verhafteten die Polizisten.

Befehl verweigert

Es hätte auch zu einem Blutbad kommen können, als der Stabschef der Marine einer Fregatte befahl, sie solle sich darauf vorbereiten, auf eine aufständische Panzer­kolonne zu schießen. Der Kommandant dieser Fregatte war mein Vater. Er wusste nichts von der Verschwörung der jüngeren Offiziere, verweigerte aber den Befehl, und zwar mit der Begründung, dass sich auf dem Platz schon Tausende jubelnder Demonstranten befanden. Damals habe ich dieser Befehlsverweigerung keine große Bedeutung beigemessen, dachte, mein Vater hätte sich bloß anständig verhalten. Erst 40 Jahre später, als das Thema Gegenstand einer Polemik war, wurde mir bewusst, was sich da abgespielt hatte.

Was wir sonst in den Büchern über die Russische Revolution gelesen und in den tieferen Schichten unserer Gehirne nie erwartet hatten, zu sehen und zu erleben, fing in den folgenden Monaten an, sich reihenweise zu ereignen. Weitere und öftere Verbrüderung mit den Truppen, Besetzung von Betrieben, die die Bosse verlassen hatten, Besetzung leerstehender Wohnungen, Besetzung von nutzlosen Agrarflächen, also von Großgrundbesitzen. Der Militärputsch hatte eine richtige Revolution ausgelöst.

António Louçã ist Historiker und war Chefredakteur der Onlineabteilung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunksender RTP. In diesem Jahr erschien von ihm das Buch »Uma Ingerência Discreta. A Alemanha Federal e a Revolução dos ­Cravos«, das sich mit der Einmischung der Bundesrepublik Deutschland in die Nelkenrevolution befasst. Am 2. Mai wird António Louçã darüber in der Maigalerie der jungen Welt sprechen.Alle Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution unter jungewelt.de/­veranstaltungen

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