75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Sa. / So., 07. / 8. September 2024, Nr. 209
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Naher Osten, Beilage der jW vom 15.05.2024
Palästinensische Flüchtlinge

Ohne Staat, ohne Rechte

Hunderttausende Palästinenser wurden in den vergangenen Jahrzehnten vertrieben. In den Aufnahmeländern sind sie dauerhaft auf Hilfe angewiesen
Von Karin Leukefeld
6.jpg
In Sicherheit, aber ohne Zukunft: Flüchtlingslager in der jordanischen Wüste (18.10.1969)

Palästinenser gelten als »Staatenlose«. Obwohl 140 Mitgliedstaaten der UN-Vollversammlung den Staat Palästina anerkennen, scheiterte zuletzt am 18. April erneut ein Antrag auf Anerkennung im UN-Sicherheitsrat am Veto der USA. Zwölf der 15 Mitglieder stimmten dafür, Großbritannien und die Schweiz enthielten sich.

In den meisten der aufnehmenden Gastländer seit 1948 haben die Palästinenser bis heute wenig Rechte. Sie leben als Flüchtlinge und Nachfahren von Flüchtlingen aus den Jahren 1948, 1967, 1973 unter schwierigen Bedingungen. Lediglich in Syrien waren die Palästinenser rechtlich der einheimischen Bevölkerung weitgehend gleichgestellt. Sie hatten und haben jedoch kein Wahlrecht und können nicht in die Armee eintreten. Doch der Krieg, der 2011 in Syrien begann, verschonte ihre Wohnviertel und Lager nicht und so flohen mindestens 200.000 Palästinenser in die Nachbarländer. 120.000 von diesen sind heute über die UNO im Libanon registriert und haben Anspruch auf Unterstützung, die von der UN-Organisation für die Unterstützung palästinensischer Flüchtlinge (UNRWA) geleistet wird. Sie wurde 1949 mit einer Resolution der UN-Vollversammlung (Resolution 302) gegründet. Die Gelder, die der Organisation zur Verfügung stehen, werden auf freiwilliger Basis von UN-Mitgliedstaaten überwiesen.

Heute unterstützt UNRWA 5,9 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachfahren in Jordanien, Libanon, Syrien, im von Israel besetzten Westjordanland und Ostjerusalem und im Gazastreifen. Das Hilfswerk arbeitet in Schulen, Ausbildungszentren und Kindergärten und bietet in Gesundheitszentren Hilfe an. Es gibt Frauenzentren, Gemeindezentren, etwa eine Viertelmillion der registrierten Flüchtlinge erhält Sozialhilfe. UNRWA verwaltet einen Fonds für Kredite, um den Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, Geschäfte und Unternehmen aufzubauen.

Neben den acht Flüchtlingslagern im Gazastreifen, von denen die meisten seit Beginn des Krieges am 7. Oktober nahezu komplett zerbombt wurden, arbeitet ­UNRWA in 19 Lagern im besetzten Westjordanland; zwölf im Libanon; zehn in Jordanien und neun in Syrien – hinzu kommen Jarmuk, Latakia und Ein Al-Tal, drei inoffizielle syrische Flüchtlingslager für Palästinenser.

Am Rande der Gesellschaften

Vor Beginn des Krieges 2011 waren 568.730 palästinensische Flüchtlinge in Syrien registriert. Darunter auch zahlreiche Palästinenser, die mit dem Irak-Krieg (2003) vertrieben wurden. In den neun Flüchtlingslagern gab es 23 Gesundheitszentren, ein Gesundheitsfonds finanzierte auch Krankenhausaufenthalte. Mehr als 50.000 Schülerinnen und Schüler wurden in mehr als 100 UNRWA-Schulen unterrichtet und konnten anschließend die syrischen Universitäten besuchen. Viele der jungen Palästinenserinnen fanden nach dem Studium einen Platz als Freiwillige oder Auszubildende in der UNRWA selbst oder bei anderen UN-Organisationen. Mit dem Syrien-Krieg hat sich die Lage für die Palästinenser – wie für die gesamte syrische Bevölkerung – erheblich verschlechtert. Viele sind auf direkte, auch finanzielle Hilfe angewiesen. Zehntausende wurden erneut vertrieben, internationale Hilfsgelder an die UNRWA wurden gekürzt oder ganz gestrichen. Armut und Erkrankungen nehmen zu.

In Jordanien lebt seit 1947/48 die größte Zahl palästinensischer Flüchtlinge. 2,3 Millionen sind bei der UNRWA registriert, von denen aber nur rund 18 Prozent in den zehn offiziellen UN-Lagern oder in deren unmittelbarer Umgebung wohnen. Die Lager werden von Jordanien verwaltet, die Sicherheitslage wird von der jordanischen Polizei kontrolliert. Rund 120.000 Schülerinnen und Schüler werden in 169 Schulen unterrichtet. Auch hier sind die Flüchtlinge der drastischen Kürzung von Hilfsgeldern, Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit ausgesetzt.

Politisches Engagement für die Palästinenser in Jordanien ist schwierig. Königin Rania, selbst palästinensischer Herkunft, übernimmt die Kritik an Israel in den Medien und bei öffentlichen Ereignissen. De ­facto aber ist das jordanische Königreich vollständig von den USA und Großbritannien abhängig, die auf jordanischem Territorium und im Grenzgebiet zu Syrien Militärbasen für eigene Zwecke errichtet haben. Im September 1970 wurde die palästinensische Befreiungsbewegung, damals noch unter Führung einer starken Fatah blutig niedergeschlagen und aus Jordanien vertrieben. Die militante Gruppe »Schwarzer September« entstand und war 1972 für das Attentat in München verantwortlich.

Jordanien gilt – auch bei westlichen Verbündeten – als effektiver Polizeistaat, dessen Foltergefängnisse berüchtigt sind. Im Oktober 1994 unterzeichnete Amman mit Israel ein Friedensabkommen und kooperiert mit dem Staat vor allem in Sicherheitsfragen – offiziell wird es »Antiterrorkampf« genannt. Die Polizei der Palästinensischen Nationalbehörde wird von Jordanien – in Kooperation mit Israel – ausgebildet. Wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Palästinenser genießt sie kein Vertrauen bei der Bevölkerung. Im April 2023 wurde bekannt, dass US-Ausbilder in Jordanien 5.000 Polizisten nicht nur ausbildeten, sondern auch bewaffneten.

Im Libanon ist rund eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge registriert. Sie leben in zwölf offiziellen Flüchtlingslagern auf engstem Raum, zumeist erwerbslos und auf Hilfe der UNRWA angewiesen. Ihre Situation ist so verzweifelt, dass viele – wie auch die syrischen Flüchtlinge – versuchen, über das Mittelmeer nach Zypern oder Italien zu gelangen. Gleichzeitig arbeiten viele europäische Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen – auch aus Deutschland – daran, die Menschen in den Lagern zu beschäftigen und von der Flucht abzuhalten. Wer sich über die UNO oder die von EU-Staaten gegründete IOM (Internationale Organisation für Migration) für ein Umsiedlungsprogramm beworben hat, hat die Chance auf eine begleitete Ausreise. Darauf verwies EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Beirut Anfang Mai. Dabei stellte sie dem libanesischen Staat eine Milliarde Euro in Aussicht, wenn er dafür sorge, dass die Menschen nicht mehr nach Europa fliehen.

Flucht und Geopolitik

Das Leben der Palästinenser bleibt unsicher, solange es keine politischen Veränderungen gibt, die ihnen Rechte und einen Staat zugestehen, in dem nicht religiöse Zugehörigkeit, militärische Übermacht oder geopolitische, internationale Interessen die Geschicke der Menschen bestimmen, sondern die UN-Charta und das interna­tionale Recht. Der aktuelle Krieg gegen den Gazastreifen ist nur einer von unzähligen Angriffen der israelischen Armee, die seit 1947/48 Palästinenser vertrieben, getötet, verstümmelt, verhöhnt und ihnen ihr Land gestohlen hat.

Die fortwährende, gewaltsame Vertreibung und Landnahme Israels gegen die Palästinenser ist Ausdruck westlicher geopolitischer Interessen, die immer mehr Krisen, Kriege und Vertreibung bewirkt. Israel agiert mit der Unterstützung und – selbst angesichts des Vernichtungsfeldzugs in Gaza – mit der Billigung von den USA und einigen EU-Ländern wie Deutschland. Israel setzt eigene und deren geopolitische Interessen in der Region um. Es geht – seit mehr als 100 Jahren – um die Kontrolle von Transportkorridoren und Ressourcen. Es geht um die Einnahme von Land.

Den palästinensischen Flüchtlingen folgten jene des US-geführten »Krieges gegen den Terror«: Seit 2001 wurden von Afghanistan über Irak, Syrien, Jemen, Somalia bis Libyen mehr als 37 Millionen Menschen vertrieben. Wasserreservoire werden geplündert, aus Weizenfeldern werden Schlachtfelder.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Auf der Flucht vor der Haganah und anderen zionistischen Milizen...
    15.05.2018

    Die Katastrophe

    Nakba: Die Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren bedeutete für einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung Entrechtung und Vertreibung
  • Der Streit um Ostjerusalem, das die Palästinenser als künftige H...
    06.06.2017

    Der Weg in den Krieg

    Vor 50 Jahren endete die dritte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn mit einem überwältigenden Sieg des ­zionistischen Staates
  • Flüchtlingscamp im Libanon (6. Januar 2016)
    18.02.2016

    »Die Menschen leben in ungeheurer Enge«

    In Jordanien und im Libanon befinden sich Millionen Geflüchtete. Die Lage ist prekär, das UN-Hilfswerk unterfinanziert. Ein Gespräch mit Annette Groth

Mehr aus: Ausland