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Aus: Naher Osten, Beilage der jW vom 15.05.2024
Einstaatlösung

Zwischen Utopie und Realismus

Eine Einstaatlösung gilt als Bedrohung Israels. Das Konzept könnte auch den einzigen Weg aus der Krise weisen
Von Jörg Tiedjen
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Während hinter der Mauer mit Protesten an die Nakba erinnert wird, bringen sich israelische Soldaten an der Sperranlage in Stellung (Kalandia, 15.5.2011)

Über die Zukunft Israels und Palästinas zu diskutieren ist nicht erst seit Herbst vergangenen Jahres, mit dem Angriff der Hamas, ein Wagnis. Es ist weniger Konsens als ein Diktat, dass eine Einstaatlösung kein geeigneter Weg zur Beendigung des Nahostkonflikts ist und nur die Zweistaatenlösung mit einem Nebeneinander Israels und eines palästinensischen Staates gangbar und wünschenswert ist. Mehr noch muss jeder, der das Konzept eines binationalen Staates vertritt, damit rechnen, als »Antisemit« bezeichnet zu werden. Denn ein solches Konzept ist mit der Aufgabe israelisch-jüdischer Staatlichkeit und der Möglichkeit verbunden, dass jüdische Bürger zu einer Minderheit und damit erneut zu einer gefährdeten Bevölkerungsgruppe würden.

Dabei wurde eine Einstaatlösung in der Vergangenheit immer wieder vertreten. Bedeutende jüdische Intellektuelle wie der deutsche Philosoph Martin Buber setzten sich seit den 1920er Jahren im Rahmen der Organisation »Brit Schalom« (Friedensbund) für den jüdisch-arabischen Dialog und einen »binationalen Staat« ein, »in dem die gleichen Rechte beiden Völkern zukommen«. Buber und andere sahen, dass die Rede vom »Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« nicht stimmte und die jüdische Einwanderung in Palästina darauf hinauslief, ein koloniales Siedlungsprojekt zu verwirklichen, das im Nahen Osten nicht geduldet würde.

Machbarkeit im Zentrum

Tatsächlich hatte die jüdische Einwanderung unter dem Vorzeichen britischer Kolonialherrschaft bereits vor der israelischen Staatsgründung zum gewaltsamen Konflikt geführt. Doch der Aufstand der palästinensischen Nationalbewegung von 1936 bis 1939 wurde von der britischen Kolonialmacht brutal niedergeschlagen. London verfolgte in Palästina eine Politik der doppelten Zunge. Auf der einen Seite war es Großbritannien, das sich mit der Balfour-Deklaration am Ende des Ersten Weltkriegs hinter die zionistische Bewegung stellte, die in Palästina eine »nationale Heimstätte« errichten wollte. Auf der anderen Seite gelangte London im »Weißbuch von 1939« zu dem Schluss, dass das Ziel eines sicheren Rückzugsortes für jüdische Menschen nur im Rahmen eines binationalen Staates zu erreichen sei.

Es geht also bei den Diskussionen um Einstaat- oder Zweistaatenlösungen nicht so sehr um hypothetische Überlegungen zur Zukunft, um die Frage, was wünschenswert wäre. Viel wichtiger waren und sind das Machbare, die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort. So fielen die Würfel in Richtung Zweistaatenlösung schließlich mit dem sogenannten Teilungsbeschluss der UNO, auf den die Ausrufung des Staates Israels folgte. Konsequenterweise hätte zugleich ein Staat Palästina eingerichtet werden müssen. Aber das scheiterte unter anderem an den Ansprüchen Jordaniens auf die Westbank.

In den Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis, die 1993 zum »Oslo-Friedensprozess« führten, galt die Zweistaatenlösung als »alternativlos«. Doch die Einsetzung der palästinensischen Autonomiebehörde hat bisher zu keinen Fortschritten der Palästinenser in Richtung eigener Staatlichkeit geführt. Im Gegenteil wurde eine Situation festgeschrieben, in der sich jüdische Siedlungen immer weiter ausdehnen und einem hypothetischen palästinensischen Staat jeden Platz rauben. Die Behörden in Ramallah fungieren dabei als Hilfskräfte der Besatzer. Damit wurden »Oslo« und seine Institutionen in den Augen vieler Palästinenser diskreditiert.

Angesichts dieser Entwicklung erfuhr das Konzept der Einstaatlösung folgerichtig eine Wiederbelebung. Schon 1999 resümierte der palästinensische Philosoph und Diplomat Edward Said: »Nach 50 Jahren israelischer Geschichte hat der klassische Zionismus keine Lösung für die Existenz der Palästinenser gefunden. Deshalb sehe ich keine andere Möglichkeit, als anzufangen, davon zu sprechen, das Land, das uns zusammengebracht hat, gemeinsam zu nutzen, in einer wahrhaft demokratischen Weise, mit denselben Rechten für alle Bürger.«

Forderung der Linken

Was von der Zielsetzung her utopisch klingt, ging pragmatisch von der Überlegung aus, dass eine Zweistaatenlösung kaum mehr möglich ist und es de facto einen einzigen Staat gibt, der für das gesamte Territorium des historischen Palästinas verantwortlich ist – Israel. Für alle Einwohner, auch die in Gaza. Zwar zog sich die Armee 2005 von dort zurück, auch Siedlungen wurden aufgelöst. Das ändert aber nichts daran, dass Israel nach wie vor als Besatzungsmacht des Küstenstreifens zu gelten hat. Dieser Realität sollte endlich Rechnung getragen werden, indem sämtliche Einwohner Palästinas Bürger dieses Staates würden. Um den jüdischen Israelis dabei die Angst zu nehmen, in Zukunft von der palästinensischen Bevölkerung dominiert zu werden, schlug der Autor Sari Nusseibeh 2012 sogar vor, diese zwar in den israelischen Staat einzugliedern, ihr gleiche Rechte aber vorerst vorzuenthalten.

Heute stellt sich die Situation noch schwieriger dar. Mit dem jüngsten Gazakrieg hat sich der Nahostkonflikt auf eine Weise verschärft, dass ein friedliches Zusammenleben von Palästinensern und Israelis kaum mehr denkbar scheint. Auch spielen einflussreiche Akteure im Nahen Osten weiter mit gezinkten Karten. Allen voran Israels Schutzmacht Nummer eins, die USA. Im April veröffentlichte The Intercept einen Artikel, aus dem hervorgeht, dass Washington eine staatliche Anerkennung Palästinas, wie sie gegenwärtig verschiedene Länder bis hin zu den EU-Mitgliedern Irland oder Spanien vorantreiben, verhindern will. Die USA wollen eine Lösung des Nahostkonflikts vielmehr durch Aussöhnung Israels mit den arabischen Ländern erreichen. Also durch eine Bündnispolitik, wie sie der frühere US-Präsident Donald Trump mit seinen »Abraham-Verträgen« eingeschlagen hat. Abgesehen davon, dass unsicher ist, ob diese Allianzen den Krieg in Gaza überleben: Mehr als ein palästinensischer Vasallenstaat wäre nach diesem Ansatz kaum drin.

Schwer zu beantworten ist die Frage, wie Israelis und Palästinenser zu einer Einstaat- oder einer Zweistaatenlösung stehen. Extreme Kräfte vertreten Maximalforderungen, also ausschließlich einen jüdischen oder umgekehrt einen islamisch geprägten Staat, wobei Israels Rechte traditionell Gebietsansprüche weit über die Grenzen Palästinas hinaus erhebt. Für einen binationalen Einheitsstaat dagegen setzen sich vor allem Linke ein, sowohl in Israel als auch unter Palästinensern. Doch die Linke schwächelt auf beiden Seiten, ihr Einfluss ist begrenzt. Ein Argument gegen die Einstaatlösung lautet denn auch, dass der Ansatz der israe­lischen Ultrarechten in die Hände spiele.

Laut Meinungsumfragen steht eine große Mehrheit der Palästinenser hinter der Zweistaatenlösung. Das kann aber auch daran liegen, dass andere Konzepte in der öffentlichen Diskussion bisher kaum eine Rolle spielten. Zudem wurde anscheinend nur bei einer Erhebung der libanesischen »Near East Consulting Group« 2007 explizit danach gefragt, ob die Teilnehmer »eine Einstaatlösung mit gleichen Rechten und Pflichten für Muslime, Christen und Juden« unterstützen würden. Dieser klar formulierte Vorschlag erhielt eine Zustimmung von ganzen 70 Prozent.

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