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Aus: Grundrechte verteidigen, Beilage der jW vom 29.06.2024
Staat gegen junge Welt

Ein Gespenst geht um in Deutschland – der Klassenbegriff

Die Bundesregierung kriminalisiert einen zentralen Terminus der Sozialwissenschaften
Von Christoph Butterwegge
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Als der Bundespräsident und andere Spitzenpolitiker der etablierten Parteien kürzlich in feierlichen Ansprachen den 75. Jahrestag der Staatsgründung würdigten, stellten sie die Verfassung und die von ihr garantierten Grundrechte, darunter die Presse- und die Meinungsfreiheit, aufs Podest. Wenn es darum geht, diese demokratischen Errungenschaften unserer Republik zu sichern, zeigen deren Repräsentanten weniger Engagement. Bisweilen treten sie die erwähnten Grundrechte sogar mit Füßen.

Günter Krings (CDU), seinerzeit parlamentarischer Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, warf der jW in seiner Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion zur wiederholten Nennung dieser Tageszeitung im Verfassungsschutzbericht »gesichert ­extremistische Bestrebungen« vor: »­Ihre marxistische Grundüberzeugung enthält als wesentliches Ziel, die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen.« (Bundestagsdrucksache 19/2941, S. 4) Abgesehen davon, dass Marxisten nicht die Demokratie, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzen wollen, stellt sich die Frage, wie freiheitlich eine Demokratie ist, die abweichende politische Meinungen kriminalisiert.

Die zentralen Erkenntnisse von Karl Marx und Max Weber, den wohl bedeutendsten deutschen Gesellschaftswissenschaftlern aller Zeiten, wurden kurzerhand für verfassungswidrig erklärt. Jedenfalls widerspreche »die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.« (ebd., S. 5)

Mittels des Klassenbegriffs wird allerdings kein Mensch »einem Kollektiv untergeordnet«, vielmehr jeder Mensch im Rahmen der Sozialstrukturanalyse einer (in diesem Fall als »Klasse« bezeichneten) Großgruppe zugeordnet. Das tun alle Soziologen, und zwar auch solche, die den Klassenbegriff gar nicht benutzen, sondern ihm den Schichtbegriff vorziehen.

Marx behandelte die Ungleichheit nicht als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem, das sich in der Klassenstruktur niederschlägt. Auch für Max Weber, einen Nationalliberalen, war »Klasse« eine Schlüsselkategorie, die er allerdings nicht im Produktionsbereich, sondern auf den Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkten verortete.

Seit dem Kalten Krieg war der Klassenbegriff in Westdeutschland verpönt. Zuletzt ist er im Bildungsbürgertum, in der Literatur und in der Popkultur aber wieder salonfähig geworden. Man muss schließlich kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist, weil einer kleinen Minderheit der Bevölkerung die Unternehmen, Banken und Versicherungen gehören, während die große Mehrheit der Bevölkerung ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um in Würde leben zu können.

Wie tief die Kluft zwischen Arm und Reich mittlerweile ist, zeigen folgende Zahlen: 16,8 Prozent der Bevölkerung oder 14,2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik gelten nach EU-Kriterien als armutsgefährdet, sprich: einkommensarm, weil sie – sofern alleinstehend – weniger als 1.168 Euro im Monat zur Verfügung haben. Umgekehrt konzentriert sich das Privatvermögen so stark in wenigen Händen, dass die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Boehringer/von Baumbach, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) zusammen etwa 250 Milliarden Euro und damit mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d. h. weit über 40 Millionen Menschen.

Nähme die Bundesregierung das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst, müsste sie durch Umverteilung des Reichtums mehr soziale Gerechtigkeit schaffen. Statt dessen erklärt der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums (ebd., S. 8) das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft für verfassungswidrig – also paradoxerweise die Beseitigung eben dessen, was seiner Meinung nach der Menschenwürde wider­spricht!

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