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Aus: Unser Amerika, Beilage der jW vom 24.07.2024
Migration

Nächster Halt: Mexiko

Hunderttausende fliehen vor Gewalt und Perspektivlosigkeit gen Norden, Richtung USA. Manche schaffen es, viele andere nicht
Von Annuschka Eckhardt
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Kräftesammeln, bevor es weitergeht: Migrierende in Ciudad Hidalgo (5.6.2024)

La Bestia zischt und quietscht. »Die Bestie«, wie der rostige Güterzug genannt wird, rollt durch die mexikanischen Kleinstadt Ixtepec. Auch in einer Januarnacht im Jahr 2017 stiegen hier Migrierende auf die Dächer der Waggons, um in Richtung Norden zu fahren. Die Reise auf den Güterzügen ist gefährlich, viele Menschen verlieren bei Unfällen Arme und Beine oder geraten unter die Züge. Eine tödliche Exkursion. Wenige hundert Meter von den Schienen entfernt liegt die Herberge für Geflüchtete »Hermanos en el Camino« im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, rund 450 Kilometer von der guatemaltekischen Grenze entfernt.

Das stark gesicherte Tor ist geschlossen, um die Mauern Stacheldraht gewickelt. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet sich ein kleines Fenster und strenge Augen blicken durch den Spalt. »Wer bist du?« fragt der Pförtner. Nach einem weiteren prüfenden Blick öffnet sich das Tor. Ein großer Polizei-Pick-up parkt direkt hinter dem Tor. Das Gelände muss so hermetisch abgeriegelt werden, da Banden Jagd auf Migrierende machen. Am Pförtnerhäuschen stehen Menschen in einer Schlange und warten darauf, registriert zu werden. Sie sehen erschöpft und abgekämpft aus, einige haben auffällige Gesichtstätowierungen. Unter ihnen ein Jugendlicher mit kindlichem Gesicht und Schneidezähnen, die von kleinen Metallplatten gehalten werden. Er kommt aus El Salvador und betet, während er wartet. Der schüchterne Junge mit den schlechten Zähnen heißt Edwin und ist weite Strecken seiner Flucht zu Fuß gelaufen, er kommt aus einer sehr armen Familie, seine Oma zog ihn in einem entlegenen Dorf groß. An den Mauerwänden hängen Dutzende Fotos von Vermissten. Vom staubigen Fußballplatz tönen laute Schreie, die Honduraner liefern sich gerade ein Match gegen die Freiwilligen, die dort arbeiten.

Jedes Jahr machen sich Hunderttausende Menschen auf den Weg durch Mexiko zur US-Grenze. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig.

Rodrigo, 22, aus El Salvador erzählt beim Holzhacken, dass er mit elf Jahren in die Gang »MS-13« eingetreten sei. Seine älteren Brüder und Cousins seien schon vor ihm Mitglieder gewesen. Die zwei größten Gangs in Zentralamerika heißen Mara Salvatrucha (»MS-13«) und 18th Street Gang (»Mara 18«), sind verfeindet und tragen blutige Fehden aus. Als Aufnahmeritual musste Rodrigo ein Mitglied der verfeindeten »Mara 18« erschießen, ein Kind in seinem Alter. Auf seinem Handy zeigt er ein Foto seiner sieben Monate alten Tochter. Dunkle Knopfaugen schauen unter einer pinkfarbenen Schleife aus dem kleinen Gesicht. Zu seiner eigenen Mutter hat er keinen Kontakt mehr, er weiß nicht mal, ob sie noch lebt. Denn vor vier Jahren verliebte sie sich in einen Mann von der »Mara 18«. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Sein Traum ist es, mitsamt seiner Familie ein »neues Leben« in Los Angeles aufzubauen. Ihm ist sehr wohl bewusst, dass er sie die nächsten Jahre kaum wiedersehen kann, seine Tochter wird ohne ihn aufwachsen. Sein Blick verschließt sich wieder und er fährt fort, die Holzscheite mit einer Axt zu spalten.

Viele fliehen vor Bandenkriminalität. Exgangmitgliedern ist ihre ehemalige Bandenzugehörigkeit oft auf den ersten Blick anzusehen, da sie auffällige Tattoos mit der jeweiligen Symbolik tragen. Tätowierte Tränen unter den Augen symbolisieren die bereits begangenen Morde an Mitgliedern der gegnerischen Gang. Rodrigo hat vier Tränentattoos.

Besonderen Schutz bietet die Herberge Menschen mit Transidentität, die von Diskriminierung und Verfolgung betroffen sind. Estefanía kocht in der Küche, lächelt, schäkert, tanzt. Aus ihrer Heimat Honduras musste sie fliehen, da ihre Familie aufgrund ihrer Transidentität bedroht wurde. Seit ihrer Kindheit weiß sie, dass sie als Frau angenommen werden möchte. Als sie älter wurde, vergewaltigte ein Mann aus ihrem Viertel sie mehrfach. Als dieser Mann begann, ihre jüngeren Geschwister zu bedrohen, beschloss Estefanía zu fliehen. Auf dem Weg nach Mexiko versuchten Narcos sie zur Prostitution zu zwingen. Estefanía teilt sich den Schlafraum mit anderen Frauen und Kindern. Hoffnungsvoll phantasiert sie von einem glücklichen Leben voller Glamour in den Vereinigten Staaten.

Edwin, Estefanía und Rodrigo waren Anfang des Jahres 2017 in der Herberge »Hermanos en el Camino« in Südmexiko – vor der Amtseinführung von Donald Trump als 45. US-Präsident. Wo sind sie heute, rund sieben Jahre später?

Im Jahr 2017 wurden laut der mexikanischen Migrationsbehörde 93.846 »Ausländer in einer illegalen Migrationssituation in Mexiko« dokumentiert. Im Jahr 2023 waren es 782.176 Personen. Seit Trump hat sich die einwanderungsfeindliche Politik der USA verschärft. Das Bestreben des noch bis Oktober amtierenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, Mexiko zu einem »sicheren Drittland« zu machen, führte dazu, »dass die mexikanischen Einsatzkräfte, einschließlich der neu geschaffenen Nationalgarde, zu einem verlängerten Arm der US-Grenzpatrouille wurden«, sagt Pável Blanco Cabrera, erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Mexikos (PCM) gegenüber jW. Das setze sich auch unter der Regierung Joseph Bidens fort.

Dies bedeute, dass die Migrierenden nun einer doppelten Tortur ausgesetzt seien, nicht nur beim Versuch, die Übergänge entlang der gefährlichen Grenze zu den USA zu überqueren, sondern bereits bei der Einreise nach Mexiko. »Die Missbräuche des Nationalen Migrationsinstituts und der Nationalgarde sowie Tragödien wie der Brand in der Migrationsstelle in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua (einer Einrichtung des Instituto Nacional de Migración, jW) sind allgemein bekannt«, so Blanco Cabrera. Die Migrationskrise beruhe auf den wachsenden »Strömen« von Menschen, die Arbeit suchten, weil es in ihren Heimatländern keine Arbeitsplätze gebe, aber auch auf der Politik der Doppelmoral der USA, die billige Arbeitskräfte für eine Reihe von Berufen benötigt. »Heute ist der ›amerikanische Traum‹ ein echter Alptraum für Migranten und ihre Familien.«

Estefanía hatte vergleichsweise Glück. Sie konnte 2017 mit Hilfe einer Organisation, die sich für Transpersonen einsetzt, einen Asylantrag stellen. Heute lebt sie in San Francisco, hat ein kleines Hündchen und verdient ihr Geld als Sexarbeiterin. Gerade hat sie sich eine blonde Haarverlängerung machen lassen, die sie begeistert präsentiert.

Edwin hat sich zunächst in Mexiko-Stadt verliebt, seine sehr junge Partnerin bekam zwei Kinder. Als die Beziehung zerbrach, machte er sich auf den Weg Richtung Norden. »Ich habe den Río Bravo und die Wüste durchquert – und hier bin ich«, erzählt Edwin. Er arbeitet in einem Supermarkt in New Jersey, hat keinen offiziellen Aufenthaltstitel: »Ich beginne um acht Uhr morgens und gehe um sechs Uhr abends. Das ist sehr anstrengend, denn ich muss alle Waren kontrollieren, die rein- und rausgehen. Es ist sehr schön hier in New York, aber ich bin nicht hier, weil es mir gefällt, sondern weil es für mich finanziell besser ist.« Seiner Expartnerin, die alleine mit den Kindern in Mexiko ist, und seiner Familie in El Salvador schickt er regelmäßig Geld.

Rodrigo ist nicht zu finden, vermutlich ist er einer der Zehntausenden, die in Mexiko verschwunden sind. Vielleicht wurde er von der Bestie verschluckt.

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