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Aus: Unser Amerika, Beilage der jW vom 24.07.2024
Gabriel Boric

Verpuffte Hoffnungen

Chile: Sozialdemokrat Boric geht viele Kompromisse ein und kann zentrale Versprechen nicht umsetzen
Von Sara Meyer
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Bei diesen Gewerkschafterinnen ist der Kampfgeist nicht erlahmt (Santiago de Chile, 11.4.2024)

Mittlerweile sind es gut zwei Jahre, die Gabriel Boric als Regierungschef und Präsident die Geschicke Chiles bestimmt. Der Sozialdemokrat war infolge einer Protestbewegung ins Amt getragen worden, die 2019 Millionen Menschen wegen sozialer Ungleichheit und hoher Preise im ÖPNV mobilisiert hatte. Als ehemaliger Anführer einer progressiven Studentenbewegung weckte Boric große Erwartungen. Seine Wählerschaft hoffte, dass der 38jährige traditionelle Eliten ablösen würde, um einen Generationenwechsel einzuleiten. Besonders ärmere Teile der Bevölkerung gaben ihm ihre Stimme.

Allein im ersten Amtsjahr wurden 115 Gesetzesprojekte verabschiedet, die höchste Zahl in der chilenischen Geschichte. Zu den wichtigsten Errungenschaften der Regierung zählen die Verkürzung der Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden, die Erhöhung des Mindestlohns sowie die Inflationskontrolle. Auch leitete Boric Fortschritte in Sachen Geschlechtergerechtigkeit ein. Und dennoch: Zentrale Vorhaben wie die Gesundheits- , Renten- und Steuerreform stocken aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und rechter Opposition. Die fragmentierte Zusammensetzung beider Kammern mit mehr als zehn Parteien erschwert die Regierungsarbeit zusätzlich.

Aufgrund dieser Konstellation musste Boric auf fast alle Bestandteile seines ursprünglichen Programms verzichten. Die Steuerreform scheiterte an fehlenden Stimmen in seiner eigenen Koalition. Das war ein harter Schlag, denn höhere Steuereinnahmen sollten neue Sozialausgaben ausgleichen, unter anderem um Bildungsinitiativen und mehr Krankenhausplätze zu finanzieren. Hinzu kommt, dass sich Borics Regierung mit den Folgen der Coronapandemie konfrontiert sieht und mit einer Bevölkerung, die stark polarisiert ist.

Im Wahlkampf hatte er versprochen, die bisherige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung umzugestalten. Die Militärpolizei – die Carabineros, die für Korruption und Gewaltbereitschaft sowie Menschenrechtsverletzungen bekannt sind – sollte reformiert werden. Doch es geschah genau das Gegenteil: Die Neugründung blieb aus, Boric ließ lediglich eine Einheit reformieren und stärkte die Carabineros, von denen 24.000 ein Zusatzgehalt erhielten. An der Polizeischule wurden 800 neue Stellen geschaffen, die Zahl der Beamten soll schrittweise von 950 auf 4.000 erhöht werden. Zusätzlich sollen neue Gefängnisplätze geschaffen werden.

Weiter hat sich die Regierung mit der rechten Opposition darauf geeinigt, noch in diesem Jahr 31 weitere Gesetzesvorhaben zu »Sicherheit« und »öffentlicher Ordnung« zu verabschieden. Dazu zählen die Gründung eines Sicherheitsministeriums sowie der Ausbau staatlicher Geheimdienste. Und obwohl der Präsident im Wahlkampf noch versprochen hatte, keine Zwangsräumungen von illegalen Wohnsiedlungen durchzuführen, geschah genau dies.

Eine Studie der lateinamerikanischen Nichtregierungsorganisation Ciudadanía Inteligente kommt zu dem Schluss, dass seine Regierung bisher nur ein Drittel ihrer Versprechen eingelöst hat. Zwar haben sich die Zustimmungswerte der Regierung zuletzt leicht erholt, dennoch liegen sie nur bei rund 30 Prozent. Wie jüngst eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem zeigt, würden 13 Prozent der Befragten bei den anstehenden Regional- und Kommunalwahlen im Oktober den ultrarechten José Antonio Kast wählen, zwölf Prozent die rechte Wählerkoalition »Chile Vamos« und nur rund zehn Prozent für Parteien der Allianz von Boric. Die Wahlen gelten als richtungsweisend für die im kommenden Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen. Der Rechtstrend hatte sich auch schon im vergangenen Jahr gezeigt, als das größte Projekt in der jüngeren chilenischen Geschichte scheiterte: eine neue Verfassung. Das Projekt war auch Borics größtes Anliegen, scheiterte im Dezember jedoch ein zweites Mal, als eine Mehrheit der Bevölkerung gegen den Entwurf des von Rechten dominierten Verfassungsrates stimmte. Vorausgegangen waren Negativkampagnen der mächtigsten chilenischen Medien.

Besonders die progressive linke Wählerschaft ist enttäuscht von Borics Politik, beispielsweise der Stärkung staatlicher Einsatzkräfte und dem Vorgehen gegen die indigene Mapuche-Bevölkerung im Süden des Landes – trotz gegenteiliger Versprechen vor der Wahl. So waren viele überrascht, dass Boric den Ausnahmezustand und die Militarisierung der von den Mapuche bewohnten Gebiete fortführte.

Boric strebt eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an, besonders im Bereich der Rohstoffe. Eine Absichtserklärung über eine künftige enge Zusammenarbeit hat er bereits unterzeichnet. Chile besitzt laut eigenen Angaben die bedeutendsten Lithiumvorkommen weltweit und strebt eine »grüne Wende« mit dem Umbau auf Solar- und Windenergie an. Im März schloss das Land ein bilaterales Handelsabkommen mit der EU, das dieser einen besseren Zugang zu Rohstoffen wie Lithium, Kupfer und Wasserstoff ermöglichen soll. Ende Juni gab die Regierung bekannt, dass Chile beabsichtigt, dem größten Freihandelsvertrag der Welt beizutreten, der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP).

So ist Gabriel Borics Präsidentschaft bisher von einer Politik der Kompromisse gekennzeichnet. Während er einige Fortschritte in sozialen und wirtschaftlichen Bereichen erzielen konnte, stehen viele seiner ambitionierten Reformen vor erheblichen Herausforderungen. Die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Chile machen es schwierig, umfassende Veränderungen durchzusetzen. Im Juni stellte er 61 kommende Projekte vor. Darunter Vorhaben wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und ein neues öffentliches Finanzierungssystem für die Hochschulbildung. Boric steht vor der Aufgabe, seine Vision eines gerechteren und nachhaltigeren Chile trotz widriger Umstände weiterzuverfolgen. Wie sehr er das Wahlvolk noch hinter sich hat, wird sich spätestens im Oktober zeigen.

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