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Aus: Unser Amerika, Beilage der jW vom 24.07.2024
Argentinien

Sieben Monate Milei

Wie ist die Stimmung in Argentinien mehr als ein halbes Jahr nach Amtsantritt des ultraliberalen Präsidenten?
Von Florencia Beloso, Buenos Aires
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Mit Knüppeln und Wasserwerfern gegen Demonstranten (Buenos Aires, 12.1.2024)

Der Taxifahrer Silvio Mucci ist gerade in einer Bar in Monte Castro, einem Vorort von ­Buenos Aires, als ich ihn treffe. Die Gegend wird vor allem von Menschen der Mittelklasse bewohnt, eine große Mehrheit von ihnen wählte 2023 Javier Milei. Silvio war einer von ihnen. »Heute muss ein Taxifahrer mehr als zwölf Stunden am Tag arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, erzählt er. »Wir sind nicht begeistert über die Entwicklungen«, so der 64jährige, »aber die meisten Fahrgäste, mit denen wir über Politik sprechen, sind sich einig, dass die Regierung mehr Zeit für Reformen bekommen sollte. Die Erwartungshaltung ist hoch.«

Die Argumente von Silvio unterscheiden sich nicht so sehr von denen anderer Gesprächspartner. Mit dem Medizinstudenten Yamil Zima und seinem Onkel Marcos Sierra (51), Professor für Politikwissenschaften und Fotograf, findet das Gespräch per Videocall statt. Wie Marcos hat auch der 21jährige Yamil bei den Präsidentenwahlen im November Milei gewählt. Er gehört zur Altersgruppe zwischen 16 und 30, die dem »Libertären« am meisten vertraut. »Einige Leute dachten, dass wir in zwei Monaten Schweizer Zustände hätten«, so Yamil. Doch er sei sich immer bewusst gewesen, dass die Argentinier eine Umstellung durchmachen müssten und leiden würden.

Auf der anderen Seite des Bildschirms erinnert sich Marcos, dass sein Interesse an der Politik bereits in der Schule begann. Und weiter: »Ich habe nicht für Sergio Massa (Mileis Gegenkandidat auf dem Wahlzettel, jW) gestimmt, weil ich zu dem Zeitpunkt auf Reisen war, aber ich habe seine Kandidatur unterstützt.« Auch die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise mit Höhepunkt im Jahr 2001, eine der größten Krisen, die Argentinien je erlebt hat, kommt zur Sprache. Damals lautete der Slogan der Proteste in bezug auf die Politiker: »Sie sollen alle gehen«, was dem Gefühl der Überdrüssigkeit ähnelt, dass die Argentinier seit langem gegenüber der politischen Führung empfinden. Der Unterschied zur heutigen Krise bestehe darin, dass der Ausweg aus der damaligen Notsituation die Wahl von Progressiven war, während er heute bei den Rechten gesucht werde. »2001 wurden die Fabriken saniert, jetzt besteht die Lösung darin, jede Art von Arbeitnehmerorganisation zu neutralisieren und den Protest zu kriminalisieren.«

Und die Auswirkungen von Mileis Politik, wie sehr sind diese am eigenen Leib zu spüren? Silvio arbeitet auf seine Rente hin, er hat ein eigenes Haus und kann dadurch alle seine Ausgaben decken, aber manchmal muss er gucken, wie er über die Runden kommt. Yamil merkt, dass alles viel teurer geworden ist, auch wenn die Inflationsrate gesunken ist. Es gibt nicht mehr soviel fürs Geld wie früher, meint er. Marcos ergänzt: »Mein Gehalt liegt zum Glück über der Armutsgrenze. Meine Haupteinnahmequelle ist das Unterrichten. Dazu kommt die Fotografie, ich bin freiberuflich tätig. Die Miete liegt bei etwa 50 Prozent meines Gehaltes.« Seiner Meinung nach bringt »die Arbeiterklasse ein Opfer, und dieses bedeutet einen enormen Geldtransfer von den Arbeitern zu den konzentrierten Wirtschaftssektoren«.

Mileis Sparplan führte auch zu einer Entlassungswelle im öffentlichen Dienst, wobei in den ersten Monaten der Regierungszeit mindestens 24.000 Beschäftigte ihre Stelle verloren. In einem Interview Anfang Juni behauptete der Präsident, er sei der »Maulwurf«, der den Staat von innen heraus zerstöre. Dabei freute er sich jedes Mal, wenn er die Zahl der Entlassungen erwähnte, und, schlimmer noch, versprach noch mehr.

Carolina Ormaechea ist 37 Jahre alt und Psychologin. Bis zum 27. März arbeitete sie bei der Nationalen Agentur für Behinderte im Bereich der finanziellen Unterstützung. Einer Schlüsselabteilung, die für die Bewertung der Unterlagen aller Antragsteller zuständig ist. Doch die Regierung von Milei hat ihren Vertrag nicht verlängert: »In der Agentur gab es 320 Entlassungen von insgesamt 1.200 Mitarbeitern im ganzen Land.« Carolina zufolge zielen die Entlassungen darauf ab, die Gewährung von Renten zu begrenzen. »In Argentinien gibt es insgesamt acht Millionen Menschen mit Behinderungen, nur 1,5 Millionen erhalten eine Rente.« In ihrem Fall ist die Entlassung doppelt haarsträubend: Carolina hat einen Sohn mit einer motorischen Behinderung. Nun, da sie arbeitslos ist, hat er seinen Anspruch auf Betreuung verloren. »Es gab keinen Grund, mich zu entlassen. Sie haben auch 120 von 900 Mitarbeitern der Nationalbibliothek entlassen.«

Ein weiterer Fall von »Verschrottung« ist der des 63jährigen Guillermo Saave­dra. Guillermo kann auf eine lange berufliche Laufbahn als Kulturjournalist zurückblicken. Er arbeitete auch als Redakteur bei großen Verlagshäusern wie Alfaguara und Tusquest und als Manager am Teatro Colón. Seit 2015 war er in der Nationalbibliothek tätig. Kurz nach dem Amtsantritt der rechtsgerichteten Regierung von Mauricio Macri wurde er entlassen, dann wieder eingestellt und schließlich in diesem Jahr von der aktuellen Regierung ohne Begründung erneut entlassen. »Die Bibliothek ist nicht nur ein Aufbewahrungsort für Bücher, sondern auch ein kulturelles Kraftwerk. Die Kultur wird systematisch unterdrückt«, warnt Guillermo. Die Regierung hat den Haushalt für Bildung und Kultur so stark gekürzt, dass die Universität von Buenos Aires, eine der renommiertesten Institutionen Lateinamerikas, kurz vor der Schließung stand. Für Guillermo wusste Milei, wie man das Unbehagen der Menschen einfängt. Das Versprechen, die politische Kaste abzuschaffen, habe einen Teil der Wählerschaft verführt. »Die große Farce des Präsidenten bestand darin, dass er sagte, er wolle die Kaste abschaffen, und das erste, was er tat, war, sich mit ihr zu verbünden.« Auch Carolina sieht »eine sehr ausgeprägte Absicht, den Staat zu demontieren und zu zerstören«. Sie vermutet zudem eine psychologische Komponente: Milei habe viele psychische Probleme. Für ihn stelle der Staat offensichtlich symbolisch die Rolle der Vaterfigur in seiner Kindheit dar.

Obwohl Milei viele Unterstützer hat, gibt es laute Stimmen von Menschen, die erkannt haben, dass es sich bei der Rhetorik des Präsidenten um Betrug handelt, dass nicht eine einzige seiner Maßnahmen im Sinne der Beschäftigten ist. So gab es heftige Proteste gegen das Ende Juni verabschiedete Gesetzespaket »Ley Bases«. Es sieht weitreichende Befugnisse für den Präsidenten und die damit verknüpfte Reform Steuersenkungen für die Reichsten des Landes vor. Ein Opfer für die einen und Betrug für die anderen. Alles deutet darauf hin, dass die Regierung Milei vor einer großen Herausforderung steht, um die Zustimmung der Wähler zu halten, die ihn gewählt haben und ihn auch heute noch unterstützen. Noch ist die Unterstützung hoch. In verschiedenen Umfragen liegt Milei im Durchschnitt bei mehr als 50 Prozent Zustimmung. Dieser Wert liegt nahe bei dem Prozentsatz, den er bei den Wahlen im November 2023 erreicht hat.

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